Die Spielwütigen

Dokumentation, Deutschland 2004, 108 min

“Danke!“ sagt die Prüferin im Auditorium. Sanft und freundlich eigentlich. Aber für die Leute oben auf der Vorsprechbühne rast dieser kurze Dank nieder wie ein Fallbeil. Mit einem Mal ist das Vorsprechen vorbei. Alles, was noch zur Sprache kommen sollte, was mühsam einstudiert war, was so sehr am Herzen lag, wird keine Worte mehr finden. 25 bis 30 Leute sollen aus mehr als 1000 Bewerbern ausgesucht werden. Da bleibt wenig Zeit. Die Prüfer der Schauspielschule beginnen, auf ihren Notizzetteln herumzukritzeln. Die Bewerber schleichen von der Bühne. Das war's. Oder auch nicht?
Der neue Dokumentarfilm von Andres Veiel (»Blackbox BRD«) ist ein großartiger Entwicklungsroman, der eine Zeitspanne von sieben Jahren umgreift. Er zeigt die harten Lehrjahre eines Quartetts von Schauspielschülern - Constanze, Prodromos, Stephanie und Karina -, die sich 1996 an der Ernst-Busch-Schule in Berlin beworben und im vergangenen Jahr ihren Abschluss gemacht haben. In allen vier Fällen kann man eine Entwicklung beobachten, die von glühendem Enthusiasmus über Wut, Frust, Hass bis zum erschöpften Happy End reicht. Dabei finden sich bewegende Erfolgsgeschichten, wie man sie sonst nur aus dem Hollywood-Kino kennt - und das in einem deutschen Dokumentarfilm! Stephanie Stremler zum Beispiel: Anfangs gescholten wegen Sprachfehlern, Koordinationsschwächen und der falschen Größe. Am Ende schafft sie es zu Hauptrollen am Staatstheater Kassel. Oder Karina Plachetka, die jetzt am Dresdner Staatsschauspiel engagiert ist und es auch ins Kino geschafft hat, in Marin Gypkens' »Wir«.
Doch der Weg dorthin ist unbequem. Die Schauspielschule erweist sich zunehmend als eiserne Disziplinierungsanstalt. Wer hier aus der Rolle fällt, wird abgemahnt. Wer dreimal abgemahnt ist, fliegt. Auf einmal hört man selbst das stählerne Selbstbewusstsein des unerschütterlichen Prodromos bröckeln: „Geht es darum, jemanden zu brechen?“, fragt er seinen Lehrer, nachdem der ihn durchfallen ließ. Die Schule mutiert zum Gegner. Seelenkriege beginnen. „Man ist verfügbar für die“, sagt Constanze. Manchmal kann man es beinahe verstehen, dass sich die Schule den Kameras von Andres Veiel nur ungern öffnete: Die Autoritäten (oder auch: „die Pfeifen“, wie Prodromos sagt) lassen sich ungern in die Karten schauen.
»Die Spielwütigen« ist weniger brisant als »Blackbox BRD«, Veiels Doppelporträt des Terroristen Wolfgang Grams und des Bankiers Alfred Herrhausen. Aber das kann man dem Film nicht ernsthaft zum Vorwurf machen. Dafür sind die Themen zu weit entfernt. Als psychologische Studien über Passionen und Obsessionen sind sich die beiden Filme dann doch wieder sehr nah - was »Die Spielwütigen« zu einem Höhepunkt des Panoramas macht. Selten hat ein Film Faszination und Frustration, Traum und Albtraum des Schauspielerberufs so genau auf den Punkt gebracht. Und das bei Nachwuchsschauspielern, die den Beruf noch gar nicht richtig begonnen haben.
Die Produktion des Films war ein Geduldsspiel. Allein sieben verschiedene Kameramänner hat Andres Veiel beschäftigt, 250 Stunden Filmmaterial wurden belichtet. Damit das Projekt nicht am Geldmangel scheiterte, mussten immer neue Fördermittel aufgetan werden. Auch die Dozenten der Schauspielschule waren nicht durchweg kooperativ. Aber nur so, in zäher Bastelarbeit am lebenden Sujet, konnte Veiel dem Phänomen auf die Spur kommen, das ihn als Filmregisseur fasziniert: der Entstehung einer Biographie.
Andreas Veiel fordert den vier Leuten viel ab. Auf die Frage, wie er sie dazu bringt, sich zu öffnen, antwortet Veiel: „Zum einen merken sie, dass es mir nicht um die schnelle Verwertbarkeit etwa von biografischem Material geht. Dass ich mich im Gegenteil sehr einlasse auf sie. Sie spüren auch, dass ich an ihnen als Mensch interessiert bin und dass ich deswegen noch ihre Widerstände ernst nehme. Das führt natürlich dazu, dass ich auch ihre Aggressionen aushalten muss. Zum anderen schaffe ich als Regisseur ja einen Rahmen, in dem sich die Leute zeigen können, ohne dass eine Bewertung von meiner Seite erfolgt. So baut sich Vertrauen auf. Interessanterweise wurde irgendwann die eigene Schutzlosigkeit zum Thema des Films: Wie weit liefere ich mich aus? Manchmal musste ich die vier auch vor sich selbst schützen, indem ich Material nicht verwendet habe.
Stefanie ist für mich wunderbar: Alle halten sie für beschränkt, nur weil sie langsam und seltsam spricht. Doch Stefanie wehrt sich gegen diese Borniertheit - erfolgreich!
Stefanie hatte von Anfang an etwas mitzuteilen, konnte es aber nicht, denn sie war wie verknotet. Aber keiner wollte genau hingucken und ihr Wesen wahrnehmen. Die Frau ist 36mal durchgefallen, an den verschiedensten Schauspielschulen und Universitäten. Heute spielt sie Hauptrollen am Staatstheater Kassel und am Berliner Ensemble - eine tröstliche Erfolgsgeschichte. Für Stefanie war ich wie ein Trainer, der an sie glaubt. Dass sie es dann doch geschafft hat, war auch für mich ein Geschenk. Mein Film heißt ja auch deswegen »Die Spielwütigen«, weil es auch um ein grundsätzliches Ausdrucksbegehren geht, das aus einem tiefen inneren Drang erwächst.“

Buch: Andres Veiel

Regie: Andres Veiel

Kamera: Hans Rombach, Lutz Reitemeier, Jörg Jeshel

Produktion: Journal Film, Klaus Volkenborn

Bundesstart: 03.06.2004

Start in Dresden: 03.06.2004