1. Juli 2014

Einzigartiges Meisterstück oder Klassiker?

Pro und Contra »Boyhood«
Einzigartiges Meisterstück oder Klassiker?
»Boyhood« sorgt in der Redaktion des Kinokalenders kaum für geteilte Meinungen.

Pro:
Wer seinen Streifen mit einem frühen Song der Band Coldplay („Yellow“) eröffnet, hat bei mir schon mal einen Stein im Brett. Richard Linklater, eine Art Wundertüte unter den amerikanischen Independent-Regisseuren, ist ohnehin einer meiner Lieblinge, ein guter Beobachter, ein Meister beim Einfangen kleiner, intimer, alltäglicher Momente, um die sich andere Filmemacher meist wenig scheren. So schuf er Anfang der 90er mit „Dazed & Confused“, in dem er sich dem letzten Schulsommer einiger amerikanischer Kids widmete, quasi ein Prequel zu „Reality Bites“, und werkelte von 1995 bis 2013 an der Beziehungstrilogie „Before Sunrise/Sunset/Midnight“. All diese Arbeiten werden inzwischen als kultige Filmperlen verehrt und geschätzt und bescherten ihm neben viel Reputation ebenso eine mehrjährige Zusammenarbeit mit Schauspieler/Autor Ethan Hawke, mit dem er sich darüber hinaus bereits zwei Oscar-Nominierungen für Drehbücher teilt. Genügend Gründe also, um sich auf „Boyhood“ zu freuen. Mit Coldplay zu Beginn ist der Start schon mal geglückt.

Was es in den darauf folgenden 166 Minuten zu sehen gibt, ist dann auch Linklater deluxe. Kein verschwurbeltes Handlungsgerüst, kein großes Drama, nur das simple Bebildern einer Jugend in Amerika; Masons (Ellar Coltrane) Jugend, auf dem Weg vom Sechs- zum 18-Jährigen, irgendwo zwischen Patchwork-Familie, nerviger Schwester (Lorelei Linklater), Campingausflügen mit dem Papa (Hawke), und den Herausforderungen der Pubertät. An sich nichts Besonderes, wäre Linklater nicht auf die Idee gekommen, dieses Erwachsenwerden mit ein und demselben Jungen auf die Leinwand zu bringen. Während somit Mason im Film seinen Alltag meistert, wird gleichsam sein Darsteller Ellar Coltrane im wahren Leben größer, reifer, anders. Seine Filmfamilie tut’s ihm gleich und so entsteht eine ganz außergewöhnliche Magie, Nähe und Realität, die es – zumindest in meinem Cineastenleben – so tatsächlich noch nicht gegeben hat.

Gedreht hat dies Linklater nebenbei von 2002 bis 2013 während anderer Filmprojekte, zur zeitlichen Einordnung fürs Publikum gibt es hier und da bekannte Songs der jeweiligen Jahre zu hören. So einfach, so gut. Dieses inszeniert Beiläufige ist es auch, das „Boyhood“ noch eine weitere erzählerische Ebene beschert: Während Papa sich vom gescheiterten Musiker zum Vertreter und fürsorglichen Oberhaupt einer Zweitfamilie entwickelt, hangelt sich Masons Mutter (Patricia Arquette) von einer gescheiterten Ehe zur nächsten, startet beruflich neu und muss ihre Lebensträume aufgrund finanzieller Engpässe später doch wieder aufschieben. Die Besuche bei Masons Großeltern, die ihm zur Bibel gleich noch eine Schrotflinte zum Geburtstag schenken, komplettieren Linklaters kleines Kaleidoskop einer Gesellschaft, die genauso viele gegensätzliche Extreme kennt wie Lebensentwürfe. Welchen Weg Protagonist Mason letztendlich einschlägt, lässt „Boyhood“ mit einem unerwarteten und doch konsequenten Schlussbild der Interpretation des Zuschauers überlassen.

Apropos Zuschauer: Nicht jeder wird die Notwendigkeit sehen, für eine überraschungsarme Geschichte wie diese extra ein Kinoticket zu lösen, zumal die Probleme, denen sich Mason stellen muss, die eines „gewöhnlichen“ Teenagers der 2000er Jahre sind. Wer es selbst oder gerade an seinen Kindern (mit)erlebt hat, ist sicherlich froh, es hinter sich zu haben. Machen Sie’s trotzdem und gehen Sie ins Kino! Denn so wahrhaftig wie in „Boyhood“ ist das Kämpfen, Weinen, Lachen und Feiern auf dem Weg zum Erwachsensein selten in einem fiktiven Film eingefangen worden.
Csaba Lázár

Doppel-Pro:
Ja, die Rubrik heißt „Pro & Contra“ und ein Pro haben wir schon. Doch »Boyhood« ist ein wundervoller Film, ein Novum, an dem es absolut nichts zu meckern gibt. Nur einer wie Richard Linklater konnte auf die buchstäblich unvergleichliche Idee kommen, ihn zu drehen. Ein Regisseur mit dem Gespür für die Kinotauglichkeit des Alltäglichen, ein Könner in Sachen Langzeitprojekte. Ein Mann, der seine Schauspieler liebt, seine Ideen mit ihnen gemeinsam weiter entwickelt, einer, dem sie gern treu bleiben. Trotzdem grenzt es an ein Wunder, dass zwei Kinder, zwei Erwachsene, sowie ein ganzes Produktionsteam über zwölf Jahre an diesem Projekt festhielten. Es dürfte auch nicht leicht gewesen sein, diesen Film zu finanzieren. »Boyhood« erzählt eben „nur“ die Kindheit von Mason (Ellar Coltrane) von der Schuleinführung bis zum Collegebeginn, wenn auch mit ein und demselben Darsteller. Man kann sich vorstellen, wie die Investoren die Stirnen gerunzelt haben.

Mit beinahe somnambuler Leichtigkeit und Zurückhaltung meistert Ellar Coltrane die wechselvollen (Film)Stationen auf dem Weg zum Erwachsenenwerden. Linklater banalisiert keineswegs die Schwierigkeiten, inszeniert sie aber nie als Dramen, sondern als zu akzeptierende Bestandteile des Lebens. Patricia Arquette spielt die Mutter von Mason und Samantha (Lorelei Linklater) mit unbändigem Mut, größtem Verantwortungsgefühl und einer nie erlahmenden Hoffnung auf die wenigstens vorübergehende Lösbarkeit aller familiären Probleme. Sie zeigt die Gefährdung und Überforderung der Alleinerziehenden, ihre Hilflosigkeit und auch die Fragilität jedweden Glückszustandes. Sie überzeugt mit der glaubwürdigen Darstellung wachsender Widerstandskraft, gepaart mit unverwüstlichem Humor. Eine zupackendere und liebevollere Mutter hat man auf der Leinwand selten gesehen. Arquette war seit David Lynchs »Lost Highway« (1997) nie ganz weg, aber jetzt ist sie zum ersten Mal wieder in einer Rolle präsent, die ihr gerecht wird.

Ethan Hawke zeigt als Mason Senior weniger romantische Seiten als in Linklaters »Before«-Trilogie und einige neue Facetten bei der Wandlung vom lange abwesenden Wochenendpapa zum verantwortungsbewussten einfühlsamen Teilzeitdad. Probleme quatscht er nicht weg, er gibt leichthin Auskünfte, die ersichtlich schwer errungen sind. Dass leben oft improvisieren heißt, ist eine Erkenntnis, die Mason Senior ganz beiläufig von der Lippe rutscht und vielleicht der wichtigste Rat an seinen Sohn.

Richard Linklaters neuer Film ist so überaus liebenswert, weil er das Leben weder zu schwer noch zu leicht nimmt. Trotz aller Mutter-Sohn-Tochter-Vater-Zweitfrau-Halbgeschwister-Großeltern-Beziehungsgeflechte schwingt stets die Botschaft aus »Before Midnight« mit: „Nicht die Liebe zu einem anderen Menschen zählt, sondern die Liebe zum Leben.“ Ja, wussten wir schon, ist aber schwer umzusetzen. Kinder verstehen das noch ohne weiteres. Mein neunjähriger Sohn war mit in »Boyhood«. Mutter wollte, dass er sich anschaut, wie Kindheit nur mal so ganz beispielsweise weitergehen kann. Seine anfängliche Skepsis (Ein „Erwachsenenfilm“ ab sechs? Ohne Action?) ließ sich mit dem Hinweis auf den späten Beginn und der Aussicht auf die mitternächtliche Heimkehr niederringen. Dass die Dame am Einlass nach seinem Alter fragte, verlieh dem Abend zusätzliches Gewicht. Ansonsten erging es ihm wie den meisten der erwachsenen Kinobesucher. Nach der Eröffnungssequenz mit Coldplay-Sound war er sofort dran am Thema und blieb das auch über die zweieinhalb Stunden Dauer. Richard Linklater hat es verstanden, die Perspektiven aller Beteiligten, quasi simultan einzunehmen. Wie er das gemacht hat, grenzt an Zauberei. Hingehen! Kinder mitnehmen!
Grit Dora