28. August 2015

Der Däne im Manne

Pro und Contra »Men & Chicken«
Der Däne im Manne
Das Tier im Manne auf Dänisch: »Men & Chicken« sorgt mit fürchterlichen Frisuren, grenzwertigem Humor und allerhand Absurditäten für ein geteiltes Echo in der Redaktion des Kinokalender Dresden.

Pro:
In der englischen Sprache steht das Wort „Chicks“ sinngemäß für „süßes Mädchen“. Anders Thomas Jensen (»Adams Äpfel«) nennt seinen neuesten Streifen nun »Men & Chicken« – „Männer & Hühner“ also. Oder doch Männer & heiße Mädels? Wie auch immer man es interpretieren möchte, Fakt ist: Ja, es geht um Männer und deren Bedürfnis nach weiblichen Körpern. Stattdessen kriegen sie jedoch nur ein paar bedauernswerte Federviecher vor ihre „Ruten“, die sie zu „Übungszwecken“ nutzen, bis geeignetere Kandidatinnen zur Auswahl stehen. Kann man ekelhaft finden. Oder unterhaltsam.

Dem Dänen Jensen und seiner Schauspielertruppe, allen voran Mads Mikkelsen, ist offenbar beides recht. Sie wollen mit »Men & Chicken« Schock und Amüsement gleichzeitig und, mein lieber Scholli, das ist ihnen mit Bravour gelungen. Ihr Film erzählt von der Reise zweier ungleicher Brüder zu ihrer Familie, von der sie bisher nichts wussten. Die lebt auf einer abgelegenen Insel auf einem verwüsteten Anwesen und kommuniziert bei der Ankunft von Gabriel und Elias vornehmlich mit Hilfe von Gegenständen, die sie sich gegenseitig auf den Nischel kloppen. Aber das ist bei weitem noch das Normalste, was die beiden Gäste fortan tagtäglich in dem heruntergekommenen und von unzähligen Tieren bevölkerten Haus erleben werden.

Verstörend, abstoßend, überdreht: »Men & Chicken« präsentiert sich zunächst als ein Potpourri unschöner menschlicher Eigenschaften, die wenig subtil auf die Zuschauer niederprasseln: Seltsame Persönlichkeiten meets Zwangsneurosen meets widerwärtige Verhaltensweisen. Und das Allerschlimmste: die Frisuren! Wer nach diesem Film Mikkelsen und seinen Kollegen Nikolaj Lie Kaas immer noch sexy findet, kriegt ein Psychologengespräch von mir spendiert – und die aktuelle Ausgabe der Frisuren-Fachzeitschrift Clivia gleich dazu!
Provokation ist das Eine. Aber was soll der ganze Unsinn? Meine Vermutung wäre, diese Tragikomödie mit deutlichen Anleihen an das Horrorkino ist die exzessive dänische Art, Familiensinn trotz aller Unterschiede und Macken zu huldigen. Ob gewöhnungsbedürftiges Aussehen, geistige Umnachtung, Realitätsverlust oder unbändige Sucht nach Käse: Geschwister sollten immer zusammenhalten, egal, ob sie mit dem Nudelholz aufeinander losgehen oder gemeinsam Texte der Heiligen Schrift interpretieren. Apropos: Könnte gut sein, dass die Anzahl der Atheisten unter den Kinobesuchern nach dieser hier angesprochenen grandiosen Szene sprunghaft ansteigt.

Abgesehen von diesem Intermezzo ist die Kernaussage von »Men & Chicken« entgegen aller zur Schau gestellten Monstrosität jedoch zutiefst humanistisch – und ganz im Sinne einer bekannten Bibelpassage: „Liebe Deinen (verrückten) Nächsten!“ Denn wenn es ganz mies läuft, könnte er dein Geschwisterchen sein.

Csaba Lázár

Contra:
Was ist passiert? Was hat den Dänen Anders Thomas Jensen bewogen, nach grandiosen Filmen wie »Adams Äpfel« und »Dänische Delikatessen« einen so aberwitzigen Quatsch zu drehen? Fünf Halbbrüder, Gabriel, Elias, Gregor, Franz und Josef schlagen sich mit dem Problem ihrer Herkunft herum. Ihr Vater war ein skrupelloser Stammzellenforscher, und schneller, als einem lieb ist, wird überdeutlich klar, dass die fünf Jungs auf ganz besondere Weise erzeugt wurden. Liebevoll bezeichnen sie den Mann, dessen Experimenten sie ihr Dasein verdanken, dennoch als Papa. Gezeichnet von Hasenscharten und anderen Deformationen unterschiedlich schweren Grades im Gesichtsbereich, tragen sie ihr Anderssein überdeutlich mit sich herum. Auch psychisch, das liegt auf der Hand, sind alle mehr oder minder angeknackst. Drei der Brüder hausen als zurück gebliebene Kindertellerfetischisten auf dem verwahrlosten Anwesen ihres Vaters, der mumifiziert im ersten Stock liegt. Wer im Keller aufbewahrt wird, ahnt man bald. Die anderen zwei kommen dazu, weil sie auf der Suche nach ihren Müttern sind. Eine heftige Kollision findet statt, wobei Elias, einer der beiden Neuankömmlinge sich in der bizarren Lebenssituation der drei anderen Halbbrüder schnell zurecht findet und Familienanschluss sucht. Gabriel, der Intellektuelle, wird für sein Anderssein entsprechend vertrimmt und verbringt zunächst viel Zeit im Rollstuhl. Er macht den unhaltbaren Zuständen ein Ende, nachdem er erfolglos versucht hat, mit Erziehungsmaßnahmen den Status quo im Sinne seiner minder reflektierten Brüder aufrechtzuerhalten. Dass der Klügste auch die einzige Frau abbekommt, die auf der Insel Ork zu haben ist, zeigt mal wieder, wie grausam ungerecht das Leben sogar im Film sein kann. Die anderen gucken in die Röhre, hilflos ihrer Sexualität ausgeliefert, und begnügen sich mit - Hühnern. Selten hat jemand so überzeugend das traurige Ausgeliefertsein an den Trieb gespielt wie Mads Mikkelsen als Elias, der zwanghaft masturbierende „Stier“.

Dank der faszinierend spielenden David Dencik, Mads Mikkelsen, Søren Malling, Nicolas Bro und Nikolaj Lie Kaas erschöpft sich »Men & Chicken« nicht in schwachen Gags. Sie ringen ihren Schießbudenfiguren Facetten ab. Besonders Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas geben den Freaks, die sie verkörpern, Doppelbödigkeit und Tiefenschärfe. Schade, dass sich Anders Thomas Jensen, sonst ein so hervorragender Drehbuchautor, in Hau-Drauf- Situationen verliert. Ständig müssen die Männer wahlweise mit ausgestopften Tieren oder Nudelhölzern aufeinander einschlagen. Ein- bis zweimal ist das ganz lustig, dann wird es fad. Und worum eigentlich geht es in dieser Groteske? Um das Tier im Menschen, um Genmanipulation, um Evolution und darum, das alles irgendwie auf die Schippe zu nehmen? Man könnte dem für seinen schwarzen Humor so beliebten Regie-Dänen zynisch unterstellen, er habe ein Plädoyer für Integration und Inklusion drehen wollen. Vielleicht war es aber einfach so, dass er mit den fünf tollsten Schauspielern Dänemarks einen noch abgefahreneren Film machen wollte. Vielleicht wollten alle mal so richtig hässlich aussehen (das hat geklappt) und die Sau rauslassen. Und in den herrlich heruntergekommenen Sets (die brandenburgischen Heilstätten Beelitz) campieren, grillen und Horrorgeschichten erzählen. Einen gewissen Spaß am Machen strahlt die krude Geschichte schon aus. In einigen Momenten entsteht eine charmante Leichtigkeit, etwa wenn die Hasenschartenbande im Sportdress mit anheimelnder Selbstvergessenheit Leibesübungen treibt. Wie Engel schweben sie dann durch die plötzlich lichten Räume.

Leider öffnet Jensen im Finale Blaubarts letzte Kammer, so dass der Grusel des Nichtwissens einem sanften Staunen über die gelinde Horrorauflösung weicht. Ist doch sonnenklar, dass der Stammzellenforscher Evilio Thanatos die Leichen der Mütter im Keller hat. Warum sie also noch zeigen? Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich.
Grit Dora