27. Dezember 2017

Keine Küchenpsychologie

Pro & Contra – Aus dem Nichts
Keine Küchenpsychologie

Fatih Akin widmet sich in seinem neuen Film den Folgen der „NSU“-Anschläge. Top oder Flop? Die Redaktion des Kinokalender Dresden ist sich uneins.

Pro:
Es ist schon erstaunlich, wie viel mediale und künstlerische Aufmerksamkeit die Mitglieder des so genannten NSU und deren Unterstützer bisher erhalten haben. So gab es beispielsweise 2016 im Ersten einen aufwendigen, dreiteiligen Spielfilm zu sehen, der die drei Haupttäter in den Mittelpunkt rückte. Auch unzählige Dokumentationen und Reportagen sind bereits erschienen und versuchen, die Ereignisse zu rekonstruieren und/oder zu erklären. Was dabei jedoch sukzessive völlig aus dem Fokus verschwindet, ist das Schicksal der Opfer und deren Familienangehörigen. Fatih Akin setzt diesem Versäumnis nun einen, wie er es selbst nennt, „Faustschlag“ entgegen.

»Aus dem Nichts« spielt vor dem Hintergrund der „NSU“-Morde, bildet aber ein fiktives Schicksal ab. Ein cleverer Schachzug des Filmemachers, kann er sein Publikum damit doch auf einer ganz anderen emotionalen Ebene ansprechen. Seine Hauptfigur Katja, beeindruckend zum Leben erweckt von Diane Kruger, ist blond, blauäugig und eine Hamburger Schnauze par excellence – und bietet somit ein größeres Identifikationspotenzial, als es möglicherweise bei den realen Fällen aufgrund der Herkunft der Opfer vorhanden war.

Die zweite lobenswerte Entscheidung von Drehbuchautor Akin ist die im weiteren Verlauf detaillierte und wirklichkeitsnahe Wiedergabe des Prozesses gegen zwei der Bombenleger, die für den Tod von Katjas Mann und Kind verantwortlich sind. Oder doch nur sein könnten? Akribisch und nachvollziehbar legt der Film die Grundlagen unserer Rechtsprechung dar – mit einem für die Protagonistin bitteren Ausgang. Akin hier nun vorzuwerfen, den deutschen Rechtsstaat zu verteufeln, wäre eine fatale Fehlinterpretation. Vielmehr unterstreicht er mit dem Gezeigten lediglich eine herausragende Errungenschaft eben dieses Rechtssystems: Im Zweifel immer für den Angeklagten. Das mag sich in Fällen wie diesem emotional völlig falsch anfühlen, moralisch jedoch ist es die richtige Konsequenz.

Zumal Akin seiner Katja, die alles verloren hat, scheinbar einen Ausweg anbietet: Sie findet die Freigesprochenen auf eigene Faust und plant ihre persönliche Art der Vergeltung. Wie diese dann im Film von statten geht, lässt viel Deutungsspielraum – und ist – daran lässt »Aus dem Nichts« keinen Zweifel – weder Lösung noch Genugtuung und schon gar kein wirksames Mittel gegen den Ursprung des rassistisch motivierten Anschlags, der diese ganz Gewaltspirale erst in Gang gesetzt hat.

Nein, einen politischen Film wollte Fatih Akin nicht unbedingt machen. „Vielmehr ging es mir um die Stufen des Schmerzes, die eine Opferangehörige durchlebt, wie sich dieser Schmerz zuerst in Ohnmacht, dann in Wut und schließlich wieder in Gewalt verwandelt“, gab er in einem Interview zum Kinostart zu Protokoll. »Aus dem Nichts« bietet kein Happy End, keine Katharsis und zum Glück auch keine Küchenpsychologie mit halbherzigen Erklärungen für dies und das. Stattdessen eine punktgenaue Momentaufnahme eines Gefühls, das wortwörtlich »Aus dem Nichts« daherkommt, jeden treffen und alles bestimmen kann: Hilflosigkeit. Ein wichtiger, ein guter Film!

Csaba Lázár

 

Contra

2014 drehte Burhan Qurbani, ein deutscher Regisseur mit afghanischen Wurzeln, »Wir sind jung. Wir sind stark.«. Ein großartiger Film mit hoch brisanten, politischen Bezügen (Rostock-Lichtenhagen 1992), der durch die Erkenntnisse zur NSU-Mordserie an historischer Bedeutung gewann. Ungefähr zu der Zeit packte Fatih Akin die Wut. Fatih Akin macht gute Filme. Selten aus dem Nichts. Sie entspringen humanistischen Gefühlen, wurzeln tief im multikulturellen Grund und tragen europaweit goldene Früchte. So weit ist der 1973 in Hamburg geborene Akin mittlerweile gereift, dass er in die Academy of Motion Picture Arts and Sciences aufgenommen wurde. Womöglich begegnet ihm in dieser Funktion bald sein eigenes Werk zur Abstimmung. Da heißt es dann vielleicht kühlen Kopf bewahren und im Zweifel für einen anderen Bewerber votieren. 

Man betritt das Kino und geht zu Boden. Der Film, so Akin, soll wie ein Bruce Lee Punch kommen. Soll Schmerzen mitteilen und von einer Mutter erzählen, die ihren Mann Nuri und ihren Sohn Rocco bei einem Anschlag verloren hat, der dem NSU-Nagelbombenattentat aus der Kölner Keupstraße nachempfunden ist. Katja Şekerci (Diane Kruger) betäubt erst ihr Leid, dann ihre Fassungslosigkeit angesichts der polizeilichen Ermittlungsarbeit mit Opium. Auch die Empörung nach innerfamiliären Verdächtigungen behandelt sie mit den Drogen ihres Anwalts Danilo Fava (Denis Moschitto). Und beschwört im Grunde einen guten Teil des späteren „In dubio pro reo“ - Freispruchs der beiden Nazi-Attentäter selbst herauf. 

Verlässt man das Kino, ist man erschrocken vom finalen Schwung des Pendels Gerechtigkeit. Auge um Auge. Rechnerisch herrscht Gleichgewicht. Doch besser geworden ist die Welt nicht. Im Gegenteil. Ja, Fatih Akin erzählt von den Opfern, wo alle immer nur über die Täter reden. Sein Handwerk beherrscht er, aber nicht seine Wut. Aus ihr heraus musste der Vater zweier Kinder diesen Film machen, doch dann verdirbt die Wut den Film auch. Das Opfer wird zum Täter. Die sich von der Gerechtigkeit betrogen Fühlende bekommt von den Drehbuchautoren Fatih Akin und Hark Bohm das Recht in ihre Hände gelegt. Und sprengt es in die Luft. So beginnt alles von vorn. Würde es der Vater seinen Kindern so erklären?

Wäre das hier Hollywood, nur irgendein Revenge-Plot, staunte man über die starke Diane Kruger und zuckte wahlweise irritiert mit den Schultern, ob des body count bzw. des fehlenden Happy Ends. Auf Pressekonferenzen hieß es zwar immer, der Thriller sei universell gemeint, und doch atmet er von der ersten bis zur letzten Minute die politisch motivierte Mordserie des NSU. Da fragt man sich, ob es ein sachlicher Strafverteidiger (ein nicht parteiischer wie bei Schirach) nicht auch bis zum Freispruch gebracht hätte. Wozu den Herrn Haberbeck also überzeichnen? Dass sich die Hinterbliebene eines Ex-Drogendealers als erstes Kokain besorgt, ist bloß ärgerlich. Dass sie ihren Racheplan damit erklärt, ihr kurdischer Ehemann würde an ihrer Stelle erst recht so handeln, ist völlig fehl am Platz. Nuri Şekerci hätte die Eheleute Möller noch vor der Polizei gefasst und kurzen Prozess gemacht? Mit Verlaub, Herr Akin, welche Art von Diskussion wollten Sie denn damit anstoßen? Ist es denn nur ein Glück, dass die Kubaşiks und Boulgarides, oder die Şimşeks in Deutschland nicht längst etliche Nazis umgebracht haben?

Menschen töten sich gegenseitig. Selten aus dem Nichts. Und sie richten sich gegenseitig. Die Gesetze untersagen beides. Ob dieses Kriegsrecht die einzige Lösung ist, müssen jetzt andere Filmemacher zeigen. Akins Heldin Katja war von Beginn an wild entschlossen, ihr Leben durchzuziehen. Mit Nuri, dem Drogendealer, den sie im Knast geheiratet hat, und mit ihrer Familie, die sie täglich bereit war, gegen jeden Scheißhurensohnwichser zu verteidigen. Die schmale Edda hatte sie dabei nicht auf der Rechnung. Niemand hatte das im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Warum eigentlich nicht? Das wäre auch ein spannender Film.

Rollo Tomasi

http://www.warnerbros.de/kino/aus_dem_nichts.html