9. Januar 2019

Eine moderne, schnörkellose Amazone?

Kritik, Pro & Contra – Gegen den Strom
Eine moderne, schnörkellose Amazone?

Das Publikum in Cannes und auf dem Hamburger Filmfest aber auch Jodie Foster waren von dem isländischen Film begeistert. In der Redaktion ist es hingegen nicht so eindeutig.

Pro:

Diese Isländer! Können nicht nur während einer Fußball-EM ganze Stadien mit ihrem Schlachtruf und einer Choreographie, die fast Dynamo Dresden-Qualität erreicht, in Ekstase versetzen, sondern auch noch mit wunderbaren Filmen begeistern. »Gegen den Strom« heißt ihr Weihnachtsgeschenk für Kinofans, eine Komödie mit ernstem Anliegen, eine Heldinnen-Geschichte, in der es weder vermenschlichte Comicfiguren noch leicht bekleidete Amazonen gibt, die mit einem Lasso schwingend den Verlauf von Weltkriegen beeinflussen (echt jetzt?). Nein, in »Gegen den Strom« steht erfreulicherweise endlich mal eine ‚ganz normale Frau‘ Anfang 50(!) im Mittelpunkt, die in ihrem Alltag einen Chor leitet – und parallel dazu im Geheimen die örtliche Schwerindustrie bekämpft.

Ausgerüstet mit Pfeil und Bogen, handlichem Schweißgerät und viel Motivation begibt sich Halla (Halldóra Geirharðsdóttir) regelmäßig in die unbewohnte Weite der isländischen Insel, um dort unbeobachtet und mit viel Raffinesse Leitungen zu kappen und wenn nötig sogar Strommasten zu Fall zu bringen. Ihr Ziel: Reichen Investoren das Geschäft zu vermiesen und der Natur weitere Verschandelung zu ersparen. Ein Ansinnen, das aufgrund immer besserer Überwachungsmethoden seitens der Polizei zunehmend schwerer zu realisieren ist.

„Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär’ nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.“ sangen Die Ärzte einmal ziemlich treffend. Es könnte der Soundtrack zu Hallas Leben sein, die hier – zum Glück – weder als engstirnige Eigenbrötlerin noch realitätsfremde Ökoterroristin dargestellt wird. Nein, Regisseur und Drehbuchautor Benedikt Erlingsson inszeniert sie vielmehr als intelligente, aufmüpfige (nicht „besorgte“!) Bürgerin, die sich von Nelson Mandela und Gandhi inspirieren lässt und ihr Mobiltelefon schon mal ins Eisfach legt, wenn sie mit einem Komplizen die nächste Aktion plant. Das ist einerseits herrlich witzig, andererseits aber irgendwie ebenso bedrückend.

Denn »Gegen den Strom« lässt sich auch als bissiger Kommentar zum paranoiden Überwachungswahnsinn verstehen, der mehr und mehr um sich greift: Da wird beiläufig eine Kamera auf eine Verkehrsampel montiert, der internetfähige Drucker verdächtigt, heimlich mitzuhören, oder der dunkelhäutige Tourist gleich mehrmals verhaftet, weil er dummerweise immer dort mit seinem Fahrrad auftaucht, wo die Polizei nach der Saboteurin sucht. Drüber lachen oder Kopfschütteln? Das dürfen die Zuschauer selbst entscheiden!

Und wenn wir schon dabei sind: Wie verrückt/genial ist denn bitte das mit der Filmmusik? Da stehen regelmäßig drei (oder mehr) Musiker im Bild rum und spielen den Score, während im Vordergrund die Handlung einfach weiterläuft. Parallel zur wachsenden Waghalsigkeit von Hallas Aktionen wagt es dann auch die Band, sukzessive in die Geschehnisse einzugreifen, was unserer Protagonistin irgendwann gehörig gegen den Strich geht.

Mir persönlich geht übrigens auch etwas gehörig gegen Strich: Dass Hollywood uns pausenlos mit muskelbepackten Superhelden in komischen Kostümen zuballert, während Alltagsheroes wie Halla (und Regisseur Erlingsson) mindestens genauso viel Aufmerksamkeit verdient hätten. Sie schwimmen im wahrsten Sinne des Wortes »Gegen den Strom« und freuen sich ganz sicher über Unterstützung. Also hopp, auf ins (Programm-)Kino, um einen der besten Streifen des Jahres zu gucken!

 

Csaba Lázár

 

 

Contra

Es beginnt mit einem atemberaubenden Blick auf die schroffen Landschaften Islands. Darin unterwegs eine Frau mit Pfeil und Bogen. Eine moderne Amazone, sportlich, scnörkellos, treffsicher. Das Ungewöhnliche daran: Sie ist nicht mehr jung, Ende vierzig. Die Frau attackiert erfolgreich Stromleitungen und entgeht virtuos den Hütern des Gesetzes. 

Halla (Halldóra Geirharðsdóttir) will auf den Klimawandel aufmerksam machen und insbesondere Investoren in Sachen Schwerindustrie das Geschäft vermiesen. Ihr schlichtes Ziel ist es, die isländische Landschaft retten. Mal eben so, ganz allein. Die Stromsaboteurin geht mit Instinkt und Kalkül vor, sie hat einen Singvogel im Ministerium, der seine Stimme nicht nur ihrem Chor zur Verfügung stellt, sondern ihr auch die Pläne der Regierung flötet, vor allem deren Maßnahmen gegen sie, die „Bergfrau”. 

Den dennoch einsamen Feldzug (der Ministerialbeamte bekommt zunehmend kalte Füße) unterbricht ein Brief vom Jugendamt, der Hallas lange unerfüllt gebliebenen Wunsch nach einer Adoptivtochter Wirklichkeit werden zu lassen verspricht. So kurz vor dem Ziel (die Investoren zeigen Island angesichts der anhaltenden Anschläge auf die Stromversorgung die kalte Schulter), gerät Halla in die Lage von Buridans Esel – sie kann sich nicht entscheiden. Späte Mutter werden oder Stromsaboteurin sprich Amazone bleiben? 

Regisseur Benedikt Erlingsson hat etliche unerwartete Twists in der Hinterhand, mit der er Erwartungen immer wieder in die Irre führt. Dass Hallas Einzelkämpferinnentum nicht eine bloße Konstruktion bleibt, liegt an ihrer kleinen, aber liebevollen Sippe (bestehend aus der Zwillingsschwester und einem vermeintlichen Cousin), die nicht unbedingt gut heißen, was und wie Halla es tut, aber buchstäblich mit Haut und Haar für sie einstehen. Die Knappheit und der spröde Humor, mit dem Erlingsson Beziehungen darstellt, beeindruckt wieder ungeheuer. Anders aber als in seinem Überraschungserfolg »Von Menschen und Pferden« von 2015 baut er in seinem neuen Film diverse Kunstkniffe ein, wie etwa die Band und das Folklore-Trio, die Hallas Taten quasi live begleiten. So witzig und artifiziell das aufploppt, schwächt es doch zunehmend die Handlung, vergrößert die Distanz zum Geschehen und mindert die Schärfe der pointierten Gesellschaftskritik. So wirkt der ganze Film etwas zu gewollt, rückt zu sehr seine Mittel in den Vordergrund. Verdammt schade, denn genau diese Art Geschichten braucht es gerade jetzt.

Grit Dora

https://www.pandorafilm.de/filme/gegen-den-strom.html