24. November 2010

Zweigeteilt - Viel verschenktes Potential?

»Carlos – Der Schakal« - Olivier Assayas Epos ist so streitbar wie die historische Gestalt des Ilich Ramírez Sánchez selbst
Zweigeteilt - Viel verschenktes Potential?
Olivier Assayas Epos ist so streitbar wie die historische Gestalt des Ilich Ramírez Sánchez selbst, wie das Für und Wider der Kinokalender Dresden-Redaktion zeigt.

Pro:
»Blade Runner« fünf, »Alexander« und »Avatar« drei, »Herr der Ringe« und »Der Untergang« zwei. Unabhängig von Alter, Erfolg und Genre ist es spätestens seit der DVD-Revolution üblich, Filme in verschiedenen Fassungen zu veröffentlichen. Da reicht das Spektrum von belanglos bis essentiell, künstlerisch wertvoll bis erschreckend banal (Ja, Herr Cameron, Letzteres gilt auch für Ihren Schlumpfen-Film). Dass dem mündigen Kinogänger allerdings gleich zum bundesweiten Filmstart zwei völlig verschiedene Versionen desselben Werks angeboten werden, hat Seltenheitswert.

Daher zunächst ein Lob an den deutschen Verleih NFP marketing & distribution für dieses Wagnis! Schrecken 187 Minuten („kurze Version“) ohnehin schon viele Zuschauer ab, so spricht eine fünfeinhalb Stunden lange Fassung („Cannes Version“) auf Garantie nur Hardcore-Cineasten und Politikstudenten mit sehr viel Freizeit an. Erstaunlich: Beide Epen funktionieren formidabel. Das Kurzstück, weil es komprimiert und trotzdem in sich schlüssig eine Ahnung davon vermittelt, wer dieser Carlos eigentlich war, was er verbrach, wofür er politisch (?) stand. Quasi all das, was Kollege Uli Edel in seinem fast gleichlangen »Baader-Meinhof-Komplex« ignorierte. Das Langstück andererseits geht den Charakteren auf den Grund, hinterfragt, taucht ein, überrascht: Kein Handlungsstrang zu viel, kein Dialog ohne Bedeutung, kein Leerlauf – und das über die volle Laufzeit. Quasi all das, was Kollege Steven Soderbergh mit seinem Zweiteiler »Che« erreichen wollte, jedoch nie zustande brachte.

Carlos, egal ob kurz oder lang, funktioniert als Polit-Thriller ebenso gut wie als Drama eines Mannes, der keine Regeln kannte und am eigenen Egoismus scheiterte. Keine neue Erkenntnis, doch dank der Maxi-Version eben nicht nur eine Behauptung bezüglich einer realen Person, sondern nachvollziehbar, offensichtlich, erklärbar. Kino mit Lerneffekt, sowohl für den Geist als auch für den Hintern, der sich schon mal daran gewöhnen sollte, dass sein Besitzer demnächst öfter so etwas sehen will. Nur nicht in 3D und schon gar nicht auf Pandora.
Csaba Lázár

Contra
Gehe nicht in die 180 Minuten Fassung, denn die wirkt irgendwie zerpflückt. Steht überall zu lesen. Warum geh ich trotzdem? Weil heute nicht Sonntagmittag ist und ich nicht im Rundkino sitze. Also mein Fehler? Vermutlich habe ich wieder mal alles falsch gemacht und konnte den Film daher nicht wie die Zuschauer in Cannes 2010 unter frenetischem Beifall verlassen. In einschlägigen Foren über das Terrorpic steht weiterhin zu lesen: Gehe nicht in eine deutsche Synchronisation! Bei einhundertundzwanzig sorgfältig gecasteten Sprechrollen hätte man Einiges erwarten dürfen. Da wird Japanisch, Russisch, Ungarisch, Französisch, Arabisch, Spanisch und neben Farsi oder Deutsch natürlich Englisch gesprochen. Doch von ständig wechselnden Verständigungskonstellationen innerhalb des Nahen Ostens keine Spur - alle sprechen deutsch, radebrechende Mittelsmänner, Terroristen als internationale Touristen - Fehlanzeige. Oder die kulturellen Micro-Clashs, wenn der venezolanische Topterrorist und sein palästinensischer Gefolgsmann dem Gebet des iranischen Ölministers lauschen, während im Hintergrund ein wahrhaft babylonisches Sprachwirrwarr herrscht - ebenso futsch.
Aber dafür kann schließlich Regisseur Oliver Assayas nichts. Er hat geklotzt. Außer in Wien hält es die Kamera keine zehn Minuten in derselben Stadt aus. Damaskus, Aden, Berlin, Paris, Algier, Beirut, Budapest, und überall wird geflüstert und geschrien, debattiert und fantasiert und zwischendurch getötet und in die Luft gesprengt. Man bekommt jedoch nur in Nebensätzen mit, worum es eigentlich geht. Um den bewaffneten Arm der Revolution. Die Revolution - wer nicht für sie ist, der ist dagegen. Und der Film? Sinnliches und mitreißendes Terroristen-Kino habe ich nicht gesehen. Sicher, dieser niemals aussetzende Blick von innen, „vom Standpunkt der Agierenden aus", sorgt dafür, dass die drei Stunden wie im Flug vergehen.
Doch dem Zuschauer geht so die Perspektive verloren. Und wenn ein ausschließlich subjektiver Blickwinkel nun gutes Kino hieße, dann wäre jede Fleiß-Recherche mit guter Handkamera ein bejubelnswerter Film. Nein. Noch dazu, wenn er vom Töten handelt. Wo Gewalt und Tod das Objekt einer Geschichte sind, braucht es wenigstens den Hauch eines nachvollziehbaren Motivs.
Aber vielleicht sollte ich mal überlegen, ob schon die Revolution einfach schlecht war, oder ob es doch am Film lag. Schaut man drei Stunden militanten arabischen Freiheitskämpfern, fanatischen Revolutionären oder Rolli tragenden Studenten aus`m Ruhrgebiet beim Debattieren und Exekutieren zu, dann täte hier und da ein freundlicher Schubs ganz gut. Und ich meine damit keine Blowjobs. Regisseur Oliver Assayas interessiert sich aber nicht für die Warum-tun-die-das-Frage. Indem er Carlos zwanzig Jahre ganz dicht auf den Fersen ist und ihm über die Schulter schaut, geht er auf Distanz zu den Ereignissen und muss keine Stellung beziehen.

Das führt immer wieder zu der Frage nach dem Warum. Als der PFLP-Kontaktmann, der gleichzeitig für den Mossad gearbeitet hatte, Carlos eben diese Frage stellt, schießt der ihm ins Gesicht. Getreu seinem Credo; Reden bringt uns nirgendwohin - jetzt ist es Zeit für Taten. Dabei meinte der Mann nicht den soeben begangenen Verrat, sondern den Terror überhaupt. Warum?
Rolo Tomassi


Contra 2
Es wäre keine Minute zu viel, der Film von Beginn an extrem spannend - so klingt es unisono in den Medien. Es ist wohl eher wie mit des Kaisers neuen Kleidern.
Zumindest in der kurzen Fassung wirkt »Carlos« nicht spannend genug, und es gelingt ihm nicht, den historischen Kontext zu greifen. Zu holzschnittartig und linear erzählt er über zwanzig Jahre. Hinzu kommen zahlreiche historische Ungenauigkeiten. Wieder muss Saddam Hussein herhalten, tatsächlich soll aber Muammar al-Gaddafi den OPEC-Überfall beauftragt haben. Die Pariser Episode nach der Verhaftung Kopps, die zu einer Art Privatkrieg von Carlos eskaliert, erscheint zusammenhangslos, ebenso die hochkomplexen politischen Verwicklungen des Kalten Krieges und des Nahen Ostens.

Darsteller und Dialoge kommen teils eher hölzern und naiv daher. Die deutsche Emanze Magdalena Kopp (Nora von Waldstätten) zerfließt bereits bei der ersten Begegnung mit Carlos (Édgar Ramírez). Wird diese unfreiwillige Komik noch der echten Person gerecht, darf eine wie auf Speed spielende Nada (Julia Hummer) eine reisende Cop-Killerin geben (dabei ist sie eine tragische Figur, deren Teilnahme am Überfall gar nicht belegt ist).
Die Kritik kann da auch nicht vor der wirklich beeindruckenden Leistung von Édgar Ramírez halt machen. Trotz seiner großartigen Darstellung kann auch er dem Menschen Carlos und seinen Triebkräften nur eher holzschnittartige Züge verleihen. Er kommt aus dem Nichts, ist weder Revolutionär noch Playboy, noch kaltschnäuziger Mörder - er tut es einfach (!).

Hans-Joachim Klein (Christoph Bach) sagt kurz vor Schluss sinngemäß "Carlos du lebst in einer Art Traumwelt, eigentlich interessiert sich niemand für dich, du bist nur ein Fossil des Kalten Krieges." Eine völlig korrekte Aussage, nur leider benötigt der Film weitere 40 Minuten, um das wenig spannende Ende des alten, kranken Mannes zu erzählen.

Entstanden ist ein vielleicht den exisitierenden Mythos Carlos demaskierender Film, der super das existierende TV-Programm als Sechs-Teiler ergänzen wird. Aber im Kino schaukelt er sich gemächlich von Episode zu Episode zu einem wenig spannenden Finale. Und dabei lässt er die wirklich großen Geschichten aus. Z. B. über Jacques Vergès, seinen geheimnisumwobenen Anwalt, der aus den Verstrickungen Frankreichs in der jüngeren Geschichte - wie wurde die Deportation der Juden in Frankreich umgesetzt, wieviel Menschen starben in Algerien? - medienwirksame Szenen und Erfolge inszenieren konnte.

PS: Der Soundtrack ist wirklich cool. Empfohlen seien zwei Filme in diesem Zusammenhang »Baader« (2001), darin spielt der leider kürzlich verstorbene Frank Giering einen irgendwo zwischen Popstar und Revolutionär angesiedelten Andreas Baader und die Doku »Im Auftrag des Terrors« (2008), die hochspannend vom Terror und damit auch die Geschichte von Carlos erzählt.
Mersaw

http://www.carlos-derfilm.de/