4. Oktober 2012

»Wir wollten aufs Meer«

Eine Geschichte über Freundschaft, Verrat und dem Traum von der weiten Welt ist unterhaltsam, dramatisch – und streitbar.
»Wir wollten aufs Meer«
Eine Geschichte über Freundschaft, Verrat und dem Traum von der weiten Welt: »Wir wollten auf’s Meer«, angesiedelt in der DDR der 1980er Jahre, ist unterhaltsam, dramatisch – und streitbar. Zumindest in der Redaktion des Kinokalender Dresden.

Pro: Wir wollten auf’s Meer

Wer sich an einen Film mit DDR-Thematik wagt, muss ein dickes Fell mitbringen, besonders dann, wenn er wie Regisseur Toke Constantin Hebbeln und Co-Autor Ronny Schalk die dramatische Variante wählt, die kaum Platz für Humor lässt. Zum einen gilt es, vor dem kritischen, weil von persönlicher Erfahrung geprägten, ostdeutschen Publikum zu bestehen, zum anderen vor den „allwissenden“ Feuilletonisten, die sich nur allzu gern auf Fehlersuche begeben, um den Machern anschließend das eigene Werk mit Begriffen wie „Klischee“, „Übertreibung“ oder „historisch inkorrekt“ um die Ohren zu hauen. Auch »Wir wollten auf’s Meer« widerfuhr – zu Unrecht – ein solches Schicksal in einem deutschen Nachrichtenmagazin.

Das Kinodebüt von Hebbeln, der 2007 für seinen Film »Nimmermehr« mit dem „Studenten-Oscar“ ausgezeichnet wurde, erzählt von den beiden Freunden Cornelis (Alexander Fehling) und Andreas (August Diehl), die 1982 nach Rostock kommen, um als Matrosen der Handelsmarine die Welt sehen zu können. Drei Jahre später sitzen sie immer noch im Hafen fest und erhoffen sich mit der Bespitzelung ihres fluchtwilligen Kollegen Matze (Ronald Zehrfeld) einen dicken Pluspunkt bei den Entscheidungsträgern. Zwar bekommt Cornelis im letzten Moment kalte Füße, Konsequenzen hat es trotzdem für alle drei: Matze landet im Knast, Andreas im Rollstuhl und Cornelis vor dem Lauf eines Grenzpostengewehrs, als er kurz darauf selbst versucht, in den Westen zu fliehen. Während Andreas anschließend Karriere bei der Stasi machen kann, bleibt für die anderen beiden nur das finstere Loch im Knast.

Bis zu diesem Zeitpunkt leistet sich »Wir wollten auf’s Meer« tatsächlich ein paar unnötige Griffe in die große DDR-Mottenkiste des Inszenierens (viel Regen, viele graue Mäntel). Andererseits verdeutlicht Hebbeln so auf einfachste Weise, was die Delinquenten dazu gebracht hat, diesem Staat den Rücken zu kehren – also warum nicht? Nur die etwas zu aufdringliche Musikuntermalung im ersten Drittel des Films möchte nicht so recht passen.

Aber geschenkt. Denn das Drama, das sich nach dieser langen und spannenden Exposition in »Wir wollten auf’s Meer« herauskristallisiert, ist wendungsreich, glaubhaft und besitzt sogar Dimensionen einer griechischen Tragödie, die elementare Gewissensfragen stellt. Es ist den Autoren hoch anzurechnen, dass sie eben nicht wie von einzelnen Kritikern behauptet lediglich eindimensionale Abziehbilder der DDR präsentieren: Selten war ein Stasi-Primus zu sehen, der so bedrohlich und gleichsam charmant-zurückhaltend agiert wie der von Hoftheater-Prinzipal Rolf Hoppe verkörperte Oberst Seler. August Diehl indessen schafft es bis zuletzt, den Zuschauer im Unklaren über seine Motivation zu lassen. Und seinem Kollegen Fehling gelingt es ebenso ausgezeichnet, seinen Cornelis vom lebenslustigen jungen Mann zum gebrochenen Helden zu formen. Allein für dieses beeindruckende Generationentreffen vor der Kamera lohnt es, ein Kinoticket zu lösen.

»Wir wollten auf’s Meer« ist weit von der Subtilität eines Christian Petzold (»Barbara«, übrigens auch mir Ronald Zehrfeld) entfernt. Für seine fiktive Geschichte über eine Männerfreundschaft, die an der Unmenschlichkeit eines auf Egoismus aufgebauten Systems zerbricht, hat Hebbeln jedoch einen passenden filmischen Rahmen geschaffen. Kein Werk über die DDR, sondern eines über die Menschen, die darin versuchten zu überleben – mit oder ohne Teufelspakt.
Csaba Lázár

Es ist schwer bis unmöglich, diesen Film nicht mit »Das Leben der Anderen« zu vergleichen. Toke Constantin Hebbeln hat ihn trotzdem gemacht. Mutig oder vermessen? Seine Geschichten spielen gern am Meer (»Nimmermeer«). In »Wir wollten aufs Meer« funktioniert die See nur als ziemlich aufgesetzt wirkende Freiheitsmetapher und lockerer Aufhänger für den Plot. Ist vielleicht nicht so wichtig, denn der Regisseur setzt auf Suspense und Aktion. Das ist doch mal ein anderer Ansatz, eine DDR-Stasi-Story zu erzählen. Am Ende kommt dann leider nur eine Art Gefängnisfilm mit Action- und Kammerspieleinlagen heraus, in dem alle bekannten, Pardon Kollege Csaba, Knast-Klischees abgearbeitet werden. Und ja, die Charaktere geraten zu Abziehbildern. Da kann auch der Große Alte Mann nicht helfen. Obwohl ein kleines Lidzucken von Rolf Hoppe immer noch mehr erzählt, als eine große Keilerei zwischen August Diehl und Alexander Fehling. Toke Constantin Hebbeln ist ein guter Regisseur. Dafür spricht, dass er neben den schon genannten Schauspielern auch Roland Zehrfeld und Sylvester Groth für sein Stasi-Drama gewinnen konnte. Hätte also ein echt aufregendes Spiel unter Männern werden können, dieser Film über die DDR, über Freundschaft und Verrat. Leider hatte er nicht den Mumm, voll auf seine Herrentruppe zu setzen, auf Frauen und die damit verbundenen Spannungen im Ost-West-Konflikt zu verzichten. Sicher, Liebe war ein Motor, das Land zu verlassen. Aber andere Gründe gab es auch haufenweise. In »Wir wollten aufs Meer« kommen Frauen nur als Sättigungsbeilage vor. Während die Männer trotz aller Klischees schauspielerisch brillieren dürfen, bleiben die Frauen als Randfiguren blass. Dieses Missverhältnis schwächt den Film enorm. Abgesehen davon, ist Hebbeln wohl an seinem Anspruch gescheitert. Man spürt das Ringen um großes Kino in jeder Szene. Viel ungerichtete Kraft und die formale Unklarheit, was der Film eigentlich sein will.

Am ehesten ist »Wir wollten aufs Meer« mit so ambitionierten Fernsehproduktionen wie »Der Tunnel« zu vergleichen. Gute Geschichte, spannende Kameraführung, schönes Licht, solides Handwerk.
Mit Henckel von Donnersmarcks großem Wurf vergleiche man besser nicht.

Grit Dora