Vergiss mein Ich

Drama, Deutschland 2014, 93 min

Der Regisseur Jan Schomburg scheint besessen von der Suche und der Konstruktion von Identität. Zuletzt zeigte er in »Über uns das All« eine Frau, die nach dem Selbstmord ihres Mannes entdeckt, dass dieser ein ganz anderes Leben führte, als sie immer zu wissen glaubte. Sein zweiter, erneut hervorragender Spielfilm hat das Programm bereits im Titel. Lena (großartig: Maria Schrader) verliert nach einer Gehirnentzündung ihr biografisches Gedächtnis. Sie kann zwar noch Autofahren und weiß, wie die Bundeskanzlerin heißt - aber sie hat keinen Bezug zu ihrer Wohnung, ihrem Ehemann Tore (Johannes Krisch) oder irgendwelchen persönlichen Gegenständen. Und: Sie hat auch ihre Emotionen vergessen, sie kann mit Gefühlen wie Liebe oder Schmerz nichts mehr anfangen. Mit Hilfe von Ärzten, Tore und ihren liebevoll-fürsorglichen Freundinnen lernt sie sich kennen und sich wieder „wie sie selbst“ zu fühlen. Staunend lässt sie sich berichten, dass ihr Forschungsgebiet früher „performative Widersprüche zu Genderfragen“ hieß. Es kommt zu seltsamen und auch höchst komischen Situationen, etwa wenn sich Lena in alten Videos sieht oder aus ihrem Tagebuch vorträgt. Sie kennt weder Diskretion noch Scham. So enthüllt sie ungerührt die Affäre ihres Mannes mit der besten Freundin und sprengt ein Abendessen unter Freunden. Mit einer Zufallsbekanntschaft (Ronald Zehrfeld) geht sie nicht nur Kaffeetrinken - die beiden landen im Bett. Schomburg zeigt diese eine beeindruckende Szene nicht nur überraschend explizit, er lässt Maria Schrader als über 40-Jährige den Sex völlig neu entdecken - ganz ohne Vorwissen. Sie erzählt es zu Hause ganz nebenbei und kann die Aufregung ihres Mannes überhaupt nicht verstehen.
Wer sich »Vergiss mein Ich« anschaut, wird sich unweigerlich Fragen auch zum eigenen Leben stellen. Da ist eigentlich doch die Sicherheit zu wissen, wer „man“ ist und dass Gefühle und Erinnerungen unverrückbar sind. Doch Lena muss dies alles neu erlernen - was ist „fröhlich“ und wie sieht Lena aus, wenn sie fröhlich ist? Sie übt vor dem Spiegel, sie zeigt seltsame Grimassen und wirkt auf ihre Umwelt sowohl naiv als auch fremd. Gleichzeitig stellt sie ganz ungewollt die Moral in Frage - warum war der Sex mit dem Fremden verwerflich? Es war schließlich irgendwie schön, und sie möchte das gerne wiederholen. Die Erwartung ihres Umfelds ist jedoch, dass sie wieder „wie früher“ wird.
Jan Schomburg hat abermals die schwierige Frage nach Identität und Biografie aufgeworfen und nähert sich ihr in einem wunderbaren Film.
Petra Wille