Dämonen und Wunder - Dheepan

Drama, Frankreich 2015, 115 min

„Wo ist deine Mutter?“ fragt Yalini (Kalieaswari Srinivasan) jedes Kind, das allein auf dem Markt in Sri Lanka sitzt. Bekommt sie eine Antwort, sucht sie weiter, bis sie ein Kind findet, das keine Eltern mehr hat. Kurzerhand macht sich Yalini zur Mutter von Illayal (Claudine Vinasithamby), einem etwa zehnjährigen Mädchen. Im Büro der Schieber bekommen „Mutter“ und „Tochter“ mit Dheepan (Jesuthasan Antonythasan) noch einen „Vater“ zugeordnet und los geht es. Die Flucht führt aus dem Bürgerkriegsland in den Westen, wo man als Familie bessere Chancen auf Asyl hat. Der Übersetzer im französischen Amt durchschaut zwar sofort Dheepans Lügen, er hat solche oder ähnliche Geschichten schon tausend Mal gehört. Doch man stammt aus der selben Region, also lässt er Dheepan ins Land, wo er fortan in einem heruntergekommenen Häuserblock in der Banlieue als Hausmeister arbeiten wird.
Wie aus den täglichen Schlagzeilen gerissen wirken diese ersten Minuten von Jacques Audiards Film, der die Flüchtlingsströme nach Europa jedoch nicht als Anlass für ein rührseliges Drama nimmt, sondern nur als Ausgangspunkt für jene ganz spezielle Mischung aus Sozialrealismus und Genremotiven, für die er bekannt ist. Anfangs zeichnet er das Leben der unfreiwilligen Familie mit großer Genauigkeit nach, beobachtet Dheepan bei seinen Pflichten als Hausmeister, zeigt, wie Yalini versucht, in der ungewohnten Umgebung Fuß zu fassen, wie Illayal in eine französische Schule geht und für Momente tatsächlich so etwas wie „echtes“ Familienleben entsteht.
Zunehmend wird jedoch deutlich, wie wenig sich für Dheepan geändert hat, für ihn, den ehemaligen Guerillakrieger der Tamilischen Tiger, der jahrelang mit Gewalt gelebt hat, die er aber doch nicht vergessen kann. Und mit der er nach und nach auch in dem Banlieue konfrontiert wird: Denn einer der Häuserblocks wird von Brahim (Vincent Rottiers) kontrolliert, einem Drogendealer, bei dem Yalini bald als Hausmädchen arbeitet. Immer deutlicher wird, dass die Flüchtlinge aus Sri Lanka nur einen Kriegsschauplatz gegen einen anderen ausgetauscht haben.
Vielleicht war es das aktuelle Thema, das die Jury um die Coen-Brüder dazu bewog, »Dheepan« mit der Goldenen Palme auszuzeichnen, die allerdings eher wie eine Würdigung des gesamten Werks Jacques Audiards wirkt. Kraftvoll und souverän erzählt ist »Dheepan« ohne Frage, schafft es auch über weite Strecken überzeugend, sozialrealistische, fast dokumentarische Momente, mit den Genremotiven zu verknüpfen. Wenn er dann aber das Pendel zunehmend in Richtung Genre kreisen lässt, Dheepan in einem exzessiven Actionmoment noch einmal zur Waffe greift, verliert der Film ein wenig die Balance. Etwas zu beiläufig wird dann die an sich spannende Ausgangssituation beiseite gewischt, nämlich die aus purer Notwendigkeit zusammengewürfelte Familie. Anfangs war es gerade Yalini, die ihre „Tochter“ verlassen wollte, nur an sich selbst dachte, während Dheepan hofft, hier eine neue, funktionierende Familie gefunden zu haben. Im Rausch der Action verliert Audiard diese persönliche Ebene etwas aus den Augen, löst sie schließlich gar in einem Happy End auf, das wie eine Phantasie wirkt. So hinterlässt »Dheepan« einen etwas zerfahrenen Eindruck, funktioniert die Verknüpfung der Genres diesmal nicht ganz so stark wie in Audiards besten Filmen. Doch allein die Ambition der Geschichte, kombiniert mit den überzeugenden Laiendarstellern und Audiards souveräner Inszenierung machen »Dheepan« zu einem interessanten, sehenswerten Film.
Michael Meyns