Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien
Seit zehn Jahren vermisst unser Land ganz schmerzlich einen seiner ambitioniertesten Kultur-Kämpfer, und es ist gar nicht auszudenken, welche wilden Aktionen Christoph Schlingensief angesichts der gesellschaftlichen Schieflage täglich zustande bringen müsste. Aus purer Not, aus Überzeugung und aus dem Glauben an das schlummernde Gute im Menschen. Diesen, gelegentlich im Tiefschlaf befindlichen, humanistischen Charaktereigenschaften wollte er immer schon täglich einen Wecker stellen. Konsequent hielt der studierte Germanist und Kunsthistoriker seine Kamera mitten in die charmante Fratze des Kapitalismus. Im Sommer 1990 sieht er deutsche Westler losziehen, die deutsche Ostler einfangen und dann aus ihnen Wurst machen. (»Das deutsche Kettensägenmassaker« kommentiert Schlingensief im Jahr 2000 selbstkritisch: “Nicht einmal Wurst, sondern einfach nur Grütze ist rückblickend aus ihnen, den Brüdern und Schwestern aus dem Osten, geworden.“ Die von ihm gegründete Partei Chance 2000 lädt alle Arbeitslosen des Landes zum Baden im Wolfgangsee ein, dessen Wasser bei entsprechender Teilnahme dem hier siedelnden Helmut Kohl bis zum Hals gestanden hätte. Und als gerade Jörg Haider mit seiner FPÖ zweitstärkste Partei in Österreich wird, lässt er in Wien Asylsuchende in einen Big-Brother-Container einziehen und per Voting quasi aus dem Land schmeißen, Selbstentlarvungen, Beschimpfungen und Klagen inklusive. Sein eigentliches Vermächtnis steht jedoch als Operndorf nicht weit von der Hauptstadt Ouagadougou in Burkina Faso.
Dem viel zu früh verstorbenen Regisseur und Aktionskünstler setzt seine langjährige Mitarbeiterin Bettina Böhler ein herzenswarmes Denkmal, indem sie Schlingensief, der seinen ersten Film bereits mit acht Jahren machte, aus unsagbar vielen, gut dokumentierten Film- und Fernsehstunden herausdampft und -destilliert. Diese Extrakte fädelt sie auf an den Gesprächen mit dem großartigen Alexander Kluge. Bis ein genüsslich treffsicheres, zutiefst humanistisch ehrliches, und ganz und gar scharf sehend machendes Gesöff übrig bleibt. Von solch kritischem Stoff braucht unser Land jeden Morgen ein Glas voll, innerlich und äußerlich angewendet, um etwaige rassistische Risiken, neoliberale Nebenwirkungen und menschenfeindliche Verkrustungen abzuwaschen.
alpa kino
Buch: Bettina Böhler, Angelina Maccarone
Regie: Bettina Böhler
Musik: Helge Schneider
Bundesstart: 20.08.2020
Start in Dresden: 20.08.2020
FSK: ab 12 Jahren