Die Jagd

Drama, Dänemark/Schweden 2012, 120 min

Das Kino der Zukunft? „Ich hoffe, dass es mich bewegt. Und mir Schrecken einjagt.“ Das sagt der dänische Regisseur Thomas Vinterberg (»Das Fest«, »Dear Wendy«). Und traut sich was: Er macht einen Film über einen zu Unrecht des Kindesmissbrauchs verdächtigten Mann. »Die Jagd« ist ein nachhaltig wirkender Film über eine Hexenjagd auf Lucas (Mads Mikkelsen). Die kleine Klara (Annika Wedderkopp) begegnet ihm oft: Im Kindergarten, wo er arbeitet, vor dem Supermarkt, wenn sie sich verlaufen hat. Und wenn sich ihre Eltern - gute Freunde von Lucas - streiten und sie traurig vor dem Haus steht, dann nimmt der sie mit in den Kindergarten. Wir sehen einen freundlichen Mann, der immer hilfsbereit ist und den auch die anderen Kinder lieben, weil er mit ihnen tobt. Und wir sehen die Zurückweisung: Sie solle ihn nicht auf den Mund küssen, sagt er ihr. Und das selbst gebastelte Herz lieber ihrer Mutter als ihm schenken. Klara, die zu Hause gerade nicht viel Aufmerksamkeit erfährt, ist gekränkt. Sie vertraut der Kindergärtnerin Grete (Susse Wold) an, Lucas habe sie angefasst und ihr seinen Pipimann gezeigt.
Damit ist es in der Welt. Und da Kinder nicht lügen, wie Grete meint, beginnt ein Karussell von Verunsicherung und Hysterie, das nicht zu stoppen ist. Eltern werden informiert, Kinder befragt, Lucas gemieden, entlassen und schließlich offen angegriffen. Erschrockene Versuche der kleinen Klara die Sache richtig zu stellen, werden von den Erwachsenen übergangen: „Auch wenn es für dich schlimm ist sich zu erinnern: Es ist passiert.“
Dass der Fokus die meiste Zeit auf Lucas liegt, macht das Zusehen besonders schlimm: Man möchte die langjährigen Freunde von Lucas anschreien, warum sie ihn nicht einmal zu Wort kommen lassen, man möchte den Psychologen rauswerfen, der mit suggestiven Fragen eine Situation herauf beschwört, die nicht annähernd stattgefunden hat. Und man möchte die Eltern dafür beschimpfen, dass sie nicht im Traum darauf kommen, dass ihre Tochter schlicht gemein sein wollte und Lucas „bestrafen“. Doch gleichzeitig weiß man, dass Eltern natürlich ihr Kind schützen, wenn ein solch ungeheuerlicher Verdacht im Raum steht. Auch wenn der mutmaßlich Täter der beste Freund seit Kindertagen ist.
Dass die Hexenjagd nicht in einem Lynchmord endet, ist dem Drehbuch von Thomas Vinterberg und Tobias Lindholm zu verdanken. Sie sparen nicht mit Hass und Gewalt, auch wenn Solidarität bei einem alten Freund und Lucas' getrennt lebendem Sohn Marcus zu finden ist. Nach einer Eskalation beim Weihnachtsgottesdienst scheint eine Wende möglich. Aber das Ende hinterlässt doch ein schreckliches, hilfloses Gefühl: Es wird nie aufhören.
Was Thomas Vinterberg vom Kino der Zukunft erwartet, hat er in seinem eigenen Film bereits meisterhaft eingelöst.
Petra Wille