Haus Tugendhat
„Das ist Schönheit. Das ist Wahrheit.“ Ein Filmbeginn mit eindeutiger Aussage. Aber auch „Kann man da wohnen? Hält man die Pathetik aus?“ Die Villa Tugendhat in Brünn (heute Tschechien) sorgte bereits kurz nach ihrer Fertigstellung 1930 durch den Architekten Ludwig Mies van der Rohe für Aufruhr in der Intellektuellenszene. Es ging um neue Weltbilder, neue Vorstellungen von Architektur und Ideale von Stadt.
Bevor die Zuschauer mehr über die bewegte Vergangenheit des Hauses erfahren, dürfen sie mit der Kamera (Kurt Weber) hindurch wandern. Wunderbar klare Linien, große Fenster und weite Räume - aber nicht für jeden Zeitgenossen damals ein „Heiligtum“, wie andere fanden.
Seitdem sind über 80 Jahre vergangen. 1938 emigriert die jüdische Familie Tugendhat in die Schweiz, die Tschechoslowakei wird von Deutschen okkupiert. Die Villa wird zwei Jahre lang von einer Familie bewohnt, deren Vater Direktor eines so genannten kriegswichtigen Betriebes ist. Deren Tochter erzählt freimütig, wie neben zusätzlichen Wänden eine „Bauernstube“ eingebaut wurde. Nach Kriegsende wird das Haus zum Kinderspital und in den Rang eines Kulturdenkmals erhoben. Später dient es als repräsentatives Gästehaus der Stadt Brünn, schließlich sogar als Schauplatz der friedlichen Teilung der Tschechoslowakei. Die von der Familie dringend gewünschte Restaurierung findet nach 20 zähen Jahren und vielen Rückschlägen erst 2012 ein Ende.
Was sich in der Zusammenfassung recht unaufgeregt anhört, hat eine zweite Seite, der im Film mindestens ebenso viel Platz gelassen wird wie der Geschichte des Hauses: die der Familie Tugendhat. Emigriert in die Schweiz, später nach Venezuela und zurückgekehrt in die Schweiz. Ernst Tugendhat, ein bekannter Philosoph, ist in dem Haus geboren, seine Schwestern haben nie in dem Haus gelebt, aber eine starke Bindung durch ihre Eltern aufgebaut.
Sie berichten, wie sie ihre Kindheit erlebten, wo sie sich zu Hause fühlten und wie sie und ihre Eltern in der fremden Umgebung zurecht kamen. Die jüngeren von ihnen sprachen einst fließend Spanisch und kamen in der Ostschweiz nur schwer zurecht. Immer war ihnen klar, dass sie „etwas Besonderes“ werden müssten, da ihre Eltern starke, gebildete Charaktere waren. Doch die vielen Ortswechsel ließen auch den Wunsch wachsen, einfach nur assimiliert und „normal“ zu sein.
Wie vielschichtig dieser sehr sehenswerte Film von Dieter Reifarth ist, wird an den gegensätzlichen Schicksalen deutlich, die in den Blick rücken: ein unbewegtes Haus und eine - zwangsweise - sich ständig in Bewegung befindliche Familie. Durch diesen Kontrast wirken einige Biografien noch stärker, z.B. die der ehemaligen Spitalkinder, die sich wegen schwerer Wirbelsäulenverkrümmung in dem wunderbaren Haus aufhalten durften und bis heute mit leuchtenden Augen davon berichten. Die klugen und reflektierten Gedanken der Tugendhat-Kinder, die dezent eingesetzte atonale Musik und die Ansichten der wunderbaren Villa machen den Film zu einem visuellen und historischen Erlebnis.
Petra Wille
Buch: Dieter Reifarth
Regie: Dieter Reifarth
Musik: Robin Hoffmann
Produktion: Pandora Film Prod., Strandfilm Produktions
Bundesstart: 30.05.2013
Start in Dresden: 30.05.2013
FSK: o.A.