11. Februar 2020

Hat Sam Mendes einen neuen Klassiker geschaffen?

Kritik, Pro & Contra - »1917«
Hat Sam Mendes einen neuen Klassiker geschaffen?

Großes Kino, viele Preise und tolle Besucherzahlen. Hat Sam Mendes einen neuen Klassiker geschaffen? Die Redaktion ist sich da nicht so sicher und debattiert darüber. 

Pro
Zwei junge englische Soldaten erhalten den Auftrag, eine praktisch unmögliche Mission auszuführen. Scheitern sie, sterben 1600 weitere. Um den Druck zu erhöhen, hat man den Bruder des Soldaten ausgewählt, dessen Einheit mit diesem Botengang gewarnt werden soll. Perfide und effizient. Der andere muss mit, weil er zufällig daneben saß. Sie hetzen los und zwei Stunden lang folgt die Kamera diesem Weg, wie ein dritter Soldat.
Mit ungeheurer Leichtigkeit gleitet sie durch Gräben, über Stacheldrahtverhaue, in Krater, durch zerstörte Häuser und unberührte wie misshandelte Natur. Durch das Diktum der ungeschnittenen Einstellung, die natürlich keine ist, sich aber so anfühlt, und die Konsequenz, mit der Regisseur Sam Mendes und sein Kameramann Roger Deakins nur an bedeckten Tagen gedreht haben, entsteht eine ungeheure Authentizität. Die Bilder entfalten eine Sogwirkung, der man sich nicht entziehen kann, die Bedrohung ist unerträglich, die Schönheit der wenigen Atempausen ebenso, die permanente Überforderung geht auch in den zuschauenden Körper - es gibt keine Möglichkeit, sich zu distanzieren.
Dabei ist die Ästhetik stark stilisiert, ein überhöhter Realismus, der jegliches naturalistische Gemetzel, Schlachtenpanoramen und dergleichen nicht nötig hat. Die Kriegserlebnisse von Sam Mendes’ Großvater liegen dem Plot zugrunde. Aber der persönliche Zugang führt nicht zu einer ausdifferenzierten individuellen Geschichte. Sam Mendes hat mit dem Botengang der beiden jungen Männer ein überzeitliches Sinnbild für Krieg geschaffen. Neben der extremen Perfektion der Kameraarbeit sind es die herausragenden zwei Spieler und mit ihnen ein, ja, Heer von Statisten, die aufs eindrücklichste die Sinnlosigkeit und Zufälligkeit von kriegsbedingtem Leben und Sterben illustrieren. Wen trifft es, wen nicht?

Sam Mendes scheut sich nicht vor plakativen Einstellungen, Kirschblüten kontrastieren Wasserleichen, er setzt Wasser direkt neben Feuer, das Staccato der Waffen gegen den engelsgleichen Gesang eines Soldaten, und die eine, einzige Frau, die auftaucht, wie eine Madonna mit - fremdem - Kind, ist ein Symbol für die andere, die friedliche Welt, die unerreichbar abwesend ist. Krieg haben sich Männer ausgedacht, nach der Schlacht ist vor der Schlacht, und die grünen Wiesen sind rot. Obwohl unvergleichlich anders, erinnert »1917« in seiner Konsequenz der Mittel an Francis Ford Coppolas »Apocalypse Now«. Sam Mendes, der große Humanist, ist auch ein großer Maler- ein klassisch-moderner. Das hat er schon damals in »American Beauty« demonstriert, als er die Schönheit der gemeinen Plastiktüte in Großaufnahme zeigte.

Für sein neues Meisterwerk benutzt er nicht den naheliegenden, spitzen historischen Pinsel, sondern zeichnet mit kraftvollen Pinselhieben die Mechanik der Zerstörung. Mit noch größerem fast rauschhaftem Strich malt er ein Bild des Überlebenswillens und der Schönheit des Daseins. Ein riskantes Ding, das schnell in stilisierten Kitsch münden könnte. Dieser Regisseur balanciert gekonnt auf dem Grat. »1917« ist Kino, das den geraden Weg ins Filmmuseum nehmen wird - und die Verkaufszahlen stimmen auch. Der Oscar droht. Grandios!

Grit Dora

Contra

Eines ist klar, Sam Mendes inszeniert großes Kino mit seinem neuen Film. Vor allem die Eröffnungs- und die Schlusssequenz sind Kino pur und bestechen in ihrer morbiden Schönheit. Der Theaterprofi Mendes zieht alle Register seines Könnens. Zu großen Teilen lebt der Film natürlich durch die vorzügliche Kameraarbeit Roger Deakins. Wie er den beiden Soldaten durch die Schützengräben folgt und wie nebenbei das Elend und die Agonie aufgreift, ist einfach großartig. Die Bildkomposition erzählt lakonisch und en passant unglaubliche Geschichten, zeigt den Krieg in seiner ganzen Widerwärtigkeit und Grausamkeit. Die großartige, sehr plastische Ausstattung und der Schnitt, der kaum wahrnehmbar den Film strukturiert, tragen ebenso bei.

Ist damit ein großartiger Film gelungen, der einen Ruhmesplatz in der Filmgeschichte einnehmen wird? Wir wissen es noch nicht. Aber einiges spricht auch dagegen. 

Mendes reduziert mit einem Geniestreich die Geschichte auf das Wesentliche: Zwei Soldaten und ihre Erlebnisse eines Tages im ersten maschinell geführten Krieg. Geschickt vermeidet er das Unmögliche, die gewaltigen Massenschlachten dieses Krieges zu zeigen und das Martialische in den schieren Rekordzahlen zu suchen. Stattdessen schickt er seine beiden Helden auf eine Mission. Lance Corporal Blake (Dean-Charles Chapman) wird von seinem Vorgesetzten ausgewählt, weil er gut Landkarten lesen kann. Er darf einen Kameraden mitnehmen, so nimmt er sich seinen Kumpel Schofield (George MacKay), der gerade zufällig mit ihm abhing, mit. Die Mission entpuppt sich als eine Art Himmelfahrtskommando. Blake soll eine Einheit, in der sein Bruder dient, vor einem Hinterhalt der Deutschen warnen. Dazu müssen sie durch die Frontlinie und das innerhalb kürzester Zeit. Es ist nicht zu viel verraten, nur einer schafft es und kann in einem unglaublichen Lauf durch die Angriffswelle seine Leute warnen und damit retten. 

Zwischen dem furiosen Ende und Anfang aber verlaufen sich die Helden durch Episoden, die nach einem großartigen Anfang ein wenig deplatziert wirken. Nachdem Blake und Schofield in das Niemandsland vordringen, verliert sich ab da leider der Film ein wenig. Das Konzept wird zu Gunsten  dramatischer und pseudo-religiöser Momente verlassen. Insbesondere die Szenen in der zerstörten Stadt wirken unplausibel und es fehlt die optische Stringenz. So schauen die beiden einem Flugzeugkampf ungeschützt zu, helfen ganz edel dem Piloten, der es ihnen böse heimzahlt. Schofield darf danach zwar im Lkw mitfahren, steigt aber wegen eines kleineren Umwegs aus und gerät an Deutsche in der zerstörten Stadt. Da erscheint einiges wenig realistisch und dient wohl eher dem Fortgang der Geschichte und ein wenig Action. 

Kritisch anzumerken wäre auch, die Soldaten sprechen immer nur von den Hunnen. Jüngeren dürfte der Begriff kaum bekannt sein. Der Schlusskommentar eines britischen Offiziers lautet sinngemäß: „Es hilft nur, bis zum Ende zu kämpfen.“ Es mag sarkastisch gemeint sein, impliziert aber auch einen patriotischen Ansatz. Der Film wirkt, eben auch durch andere Details, parteiisch und geschichtsverklärend. Der kriegskritische Ansatz erscheint mir sehr verkürzt. Im Kontext der britischen Sicht mag der patriotische Unterton ja angebracht sein. 

Auch kommerziell ist der Film sehr gut angelaufen, die Preise bei den Golden Globes sprechen eine sehr deutliche Sprache. Bei den diesjährigen Oscars wird der Film sicherlich nicht leer ausgehen. Insofern haben Sam Mendes und die Produzenten alles richtig gemacht. Das bisschen Genörgel können sie da sicherlich ab.
Mersaw

https://www.universalpictures.com/movies/1917