Die Blume des Bösen

Drama, Frankreich 2003, 104 min

Die Kamera nähert sich dem herrschaftlichen Anwesen durch einen dichten Blätterwald. Im Haus gleitet sie dunkle Flure entlang, lugt in die verschiedenen Zimmer, dann wieder zurück in den Flur; sie schwebt die unverzichtbare melodramatische Treppe hinauf und landet schließlich im dunkelroten Herzen des Hauses bei der (zukünftigen) Leiche des Hausherrn. Mord im Büro, die Kamera als Schnüffler - in seinem jüngsten Film bedient sich Chabrol der Grobstruktur eines „whodunit“, um die Geschichte der Großbürgerfamilie Charpin-Vasseur zu erzählen. Bruchstückhafte Enthüllungen einer dunklen Vergangenheit und wohlerzogene Verschleierungsmanöver wechseln einander ab; jede Szene, jeder Dialog wird zum sorgfältig arrangierten Ballett aus Offenbarung und Verhüllung.
Der Reigen setzt ein, als Francois, Sohn des Hauses, nach einem dreijährigen Studienaufenthalt aus den USA zurückkommt und die Liebesbeziehung zu seiner Stiefschwester Michèle wieder aufnimmt. Ihre Liaison, der etwas Inzestuöses anhaftet, ruft Erinnerungen an die Bruder-Schwester-Beziehungen wach, die sich durch die Familiengeschichte der Charpin-Vasseurs ziehen. Vor allem bei der liebenswerten alten Tante Line. Gleichzeitig wird das Lügengebilde, das die Familie zusammenhält, auch von außen angegriffen. Anne Vasseur, die Mutter Michèles, kandidiert zur Bürgermeisterin der kleinen Gemeinde. In anonymen Flugblättern wird die Familie attackiert und Tante Line des Mordes an Urgroßvater Charpin bezichtigt, der als Kollaborateur der Nazis Widerständler verfolgt haben soll. Auch hier scheint sich die Geschichte zu wiederholen mit Vater Charpin als Wiedergänger des skrupellosen ‚Collabos’. Gérard Charpin ist ein selbstgerechter Macho und Patriarch, der die politischen Ambitionen seiner Frau ebenso missbilligt wie den Auslandaufenthalt seines Sohnes. Allein seine gutgehende Apotheke, seine Ruhe, sein abendlicher Whiskey und seine Affären mit jungen Frauen interessieren ihn.
Chabrol inszeniert die Ungeheuerlichkeiten im Alltag der Familie Charpin-Vasseur wie immer bewusst unterkühlt, so als würde er sie durch eine dicke Glasscheibe betrachten. Mord, Inzest und Heuchelei reihen sich gleichberechtigt in belanglose Dialoge und Alltäglichkeiten. Dabei gelingen dem Regie-Veteranen Szenen formvollendeter Bösartigkeit, kleine satirische und inszenatorische Kabinettstücke. Schwer zu sagen, ob ‚La Fleur du Mal’ lediglich eine weitere kunstvolle Variation über ein altes, möglicherweise schon überlebtes Lieblings-Thema Chabrols ist oder ein Sittenbild der französischen Gesellschaft, das aktuelle Gültigkeit hat. Wenn ja, dann ist es schlecht bestellt um Politik und Gesellschaft in Frankreich; die Krankheit ist chronisch und setzt sich in jeder neuen Generation fort. Oder wie Tante Line sagt: „Le temps n’existe pas, c’est un présent perpétuel.“
Hendrike Bake