Das Leben neu ausrichten

Es gilt »Flow« zu besichtigen. Wir sind zwischen 15 und 60 Jahren alt, die Jugendlichen unter uns sind, obschon Filmfest-erprobt nur mäßig vorfreudig - was soll das denn jetzt, ein Animationsfilm am Sonntag vormittag, der Trailer kam außerdem recht spröde daher, kein Vergleich zu Disney oder Pixar. Und wo ist noch mal dieses kleine Lettland, ist das Europa? Sei es drum. Der Hinweis auf den Oscar, den Regisseur Gints Zilbalodis für seinen hart erarbeiteten Geniestreich mit nach Hause genommen hat, lässt immerhin aufhorchen. Der Saal ist auch gut gefüllt, das beruhigt. Film ab.
Zilbalodis braucht keine zehn Minuten, um durchgehend maximale Spannung zu erzeugen. Die fragenden Augen der Katze, die mit knapper Not der titelgebenden Flutwelle auf ein nicht besonders sehtüchtiges Boot entkommt und in deren Blick sich eine Welt von Emotionen spiegelt, lassen niemanden mehr los. Die Geschichte ist schnell erzählt, das Boot wird ganz unterschiedlichen Tieren Zuflucht bieten, die es in der Enge dieses Raumes miteinander aushalten, sich einander anpassen müssen, um eine Überlebenschance zu haben. Eine atemberaubende Odyssee nimmt ihren Lauf. Wo immer Landschaft aus den Wassermassen auftaucht, sind auch menschliche Spuren zu sehen, die Menschen selbst scheinen ausgestorben. Toll, dass Zilbalodis der Versuchung widerstanden hat, die Tiere zu vermenschlichen. Weder in ihrem Tun noch in ihrer Sprache. Die Verständigung findet über Tierlaute statt, differenziert und subtil. Sie verstärken Musik, Kamera, Beleuchtung und Animation, ohne sich aufzudrängen. Das Hunde- und Katzenknurren, das Gezeter des begleitenden Lemuren oder Vogelkreischen, alle Empfindungslaute fügen sich fast unmerklich in diese Geschichte über die Gratwanderung zwischen Unabhängigkeit und Anpassung ein. Die Katze, obschon zufriedene Alleingängerin, wird sich auf tierische Gesellschaft einlassen, der Hund, das Meuten-Tier, findet im Laufe der Reise zu größerer Unabhängigkeit. Wasserschwein, Lemur und Sekretärsvogel zeigen neben der Vielfalt auch die Fragilität der Schöpfung und ihre Bedrohung. Ein urzeitlicher Wal verkörpert noch eine weitere Dimension und begleitet aus der Ferne. Die (un)heimliche Hauptrolle spielt neben den großen Augen der Katze das Wasser, diese steigende und fallende, schiebende und tragende, immer unvorhersehbare Kraft. Sie kann natürlich als Kommentar zum Klimawandel gelesen werden, aber Gints Zilbalodis geht es um eine größere Metapher: Die Welle ist ein Zeichen für jede Form von zerstörerischer Kraft, die jegliche Lebewesen dazu zwingt, ihr Leben neu auszurichten, wenn sie denn erfasst werden.
Das klingt ambitioniert, fast pädagogisch, kommt aber in keinem Moment so rüber. Dem kleinen Team um den lettischen Regisseur ist ein unaufdringliches Plädoyer für friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Tierarten, sprich Kulturen, unter sich dramatisch verändernden Bedingungen gelungen. In betörend schönen Bildern erzählt, entwickelt dieser außerordentliche Film eine ungeheure Sogwirkung für Menschen jeden Alters. Das darf man geradezu mutig finden, in einer Gegenwart, die die vier apokalyptischen Reiter täglich durch alle Kanäle peitscht. Und nein, dieser Film ist nicht harmoniebedürftig oder süßlich. Zilbalodis schafft es, alle Fallstricke zu vermeiden - durch formale Strenge und eben wegen der Nichtvermenschlichung der Figuren. Und so ist »Flow«, der Animationsfilm über die mystische Odyssee einer schwarzen Katze und ihrer Gefährten, das Kinowunder eines kleinen unabhängigen Teams, das mit einem begrenzten Budget eine Geschichte auf die Beine gestellt hat, die das Publikum auf der ganzen Welt bewegt. Sogar spröde Dresdner Jugendliche. Die wollen nun ein weites Mal gehen. Und vorher online Tickets kaufen. Könnte sein, es ist ausverkauft.
Grit Dora
https://www.mfa-film.de/kino/id/flow/
