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Anatomie eines Falls

Kriminal-Drama, Frankreich 2023, 151 min

Einer Autorin im Gerichtssaal vorhalten zu wollen, ihr Mann sei ja geradezu buchstäblich aus dem Fenster gefallen und dabei zu Tode gekommen, wie es in einer ihrer früheren Novellen beschrieben stehe, hieße nur schwerlich einen Verdacht erfolgreich erhärten. Das halbe Land habe letztlich ihr Buch gelesen. Auch die bei Gericht angeführte Tatsache, dass sonst niemand außer ihr im Hause war, als ihr Mann zu Tode kam, beruht erst einmal auf Hörensagen. Und auf der Aussage Daniels, des Sohnes von Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Samuel Theis), der während eines heftigen Streites der Eltern das Haus mit dem Hund verlassen hatte und bei seiner Rückkehr einen toten Vater vorfand und eine verstörte Mutter. So scheidet er als Augenzeuge wohl ebenfalls aus, obendrein noch, weil Daniel (Milo Machado-Graner) blind ist. Und nur der Hund ihn zu der Leiche im Schnee führte, die er selbst gar nicht bemerkt hätte. Solange die Gerichtsmedizin sich schwer tut, die tödlichen Kopfverletzungen eindeutig einem Suizid zuzuordnen, wohnen also ein potentieller Zeuge und eine vermeintliche Tatverdächtige unter einem Dach. Könnte Sandra wahrlich durch die ihr zur Last gelegte Tat zu einem Monster geworden sein? Könnte sie durch eine perfide Verschwörung bloß als ein solches gelten, oder erst durch den minutiös in den Medien sezierten Gerichtsprozess zunehmend wie das kühle, blonde Monster erscheinen? Welches sie von Beginn an beharrlich bestreitet zu sein. Sandra Hüller wurde hier ein Drehbuch auf den Leib geschrieben, mit dessen Hilfe sie, souverän spielend, sowohl die Schwere darzustellen vermag, die einer zu Unrecht Angeklagten auf den Schultern liegen mag, als auch die emotionale Last spürbar werden lässt, ohne die selbst die kaltblütigst berechnende Täterin nicht in den Zeugenstand treten könnte. Am Ende schielt Justine Triets in Cannes preisgekrönter Film weniger nach der finalen Schlagzeile in den Abendzeitungen, nach dem profanen whodunit, sondern beleuchtet viel aufmerksamer jene schmale Grenze, auf der Recht und Gerechtigkeit bei jedem Gerichtsprozess vor und zurück tänzeln. Und wegen der sie bei der Urteilsverkündung nicht immer gemeinsam ins Ziel kommen.
alpa kino