9. Dezember 2021

Krasses Lebensgefühl

Mit so viel Leidenschaft – »Lieber Thomas«, Kritik
Krasses Lebensgefühl
Statt Pro & Contra gibt es diesmal zwei eigenständige, teils euphorische Texte zu »Lieber Thomas«. Leider können wir aktuell den Film nicht sehen. Wir hoffen auf Januar...


Dieser Film ist ein krasses Lebensgefühl, ein Rausch in sattem Schwarz-Weiß, ein Bilderhammer. Das alles trotz seiner simplen Struktur - Prolog und Epilog, dazwischen eine mal straff gespannte, mal durchhängende Episodenkette. Er ist ein Mischgewebe aus dokumentarisch anmutenden ostdeutschen und bundesrepublikanischen Alltagsszenen, die von kraftvollen, teils dick aufgetragenen surrealen Phantasien zusammengehalten werden, von Angstträumen, Verfolgungswahnvorstellungen, Hybris, Geborgenheitssehnsüchten. Es gibt schon allerhand Filmisches, vornehmlich Dokumentarisches, über die Familie Brasch und deren ältesten und bekanntesten Sohn Thomas. Dennoch ist der Autor und Regisseur zehn Jahre nach seinem frühen Tod beinahe wieder ein Geheimtipp. Regisseur Andreas Kleinert hat den Mumm aufgebracht, keinen weiteren Dokumentarfilm über ihn zu drehen. Er hat sich ein Biopic zugetraut, ein Genre, das immer der Ausdeutung bedarf, was im Fall von Thomas Brasch keine Kleinigkeit ist und sehr speziell: Eine Biografie, die ebensowenig darauf verzichtet, die Lebensstationen Braschs chronologisch korrekt nachzuvollziehen, wie künstlerische Kniffe und Tricks anzuwenden, um in Braschs Kopf zu steigen, eine Bildsprache für seine Sprachbilder zu finden, für seinen Kampf mit den Systemen, mit der Familie, vor allem - mit sich selbst. Den Spagat muss man erstmal hinkriegen. Entstanden ist ein schmerzhaft schöner, auch schauerlicher Film über ein aufreibendes Künstlerleben. Kleinert hat es geschafft, die knirschende Reibung zwischen den Systemen spürbar zu machen, die Brasch so stark am eigenen Leib erfuhr. Man könnte sagen, er, der Pathos nicht scheute, war gepfählt von der Nachkriegsgeschichte Deutschlands. Sein tiefes Gespaltensein spielt Albrecht Schuch mit beängstigender Intensität. Er verschmilzt mit seiner Figur.

Diese Distanzlosigkeit lässt keinen Raum für eine Entwicklung, von der ersten Minute bis zum Finale hat Schuchs Brasch dieselbe überhitzte Arbeitstemperatur und maximale Intensität - mitunter beängstigend und nicht in jedem Moment gelungen, ein Spiel um Kopf und Kragen. Aber hier geht es um keinen Film zum Rummäkeln, keinen Film für kleine Wenns und Abers. »Lieber Thomas« ist ein großer Wurf - auf Augenhöhe mit dem Menschen, von dem er handelt. Streng und anstrengend, kompromisslos und nervtötend, zauberhaft verträumt und - verspielt. Denn dem Spielen, zumal dem auf dem Theater, galt eine seiner vielen großen Leidenschaften.
Er, der ja auch Dramatiker war, hat das nirgendwo klarer ausgedrückt als in seinem Text „Warum Spielen“:
„… um die Geister zu bannen, vor den Türen und unter dem Tisch: Hilfe, ich lebe/um diese krachende Stille nicht aushalten zu müssen/um herauszufinden, wie lange einer ausgehalten wird von Leuten, die sich genauso wenig für ihn interessieren wie für sich selbst/um nicht angestellt zu sein/um vergessen zu werden/um die Frage überflüssig zu machen: Warum spielen/um zu spielen..."
Grit Dora


https://www.wildbunch-germany.de/movie/lieber-thomas