Starke Frauen sind verdächtig
Pro
Ein entscheidender Satz fällt im ersten Drittel des Filmes: „Du musst anfangen, dich so zu sehen, wie andere dich wahrnehmen.“, fordert Anwalt Vincent (Swann Arlaud) von seiner hochverdächtigen Klientin Sandra (Hüller). Die Frage ist für ihn nicht, dass macht der Anwalt ihr direkt nach dem Vorfall klar, ob Sandra ihren Mann Samuel getötet hat. Er will und muss dem Gericht eine möglichst glaubwürdige Mandantin präsentieren, egal was passiert ist. Eine Frau, die die Geschworenen für sich einzunehmen versteht. Zuviel Komplexität schadet da nur. Es gilt eine Strategie zu entwickeln. Wer wird vor Gericht die überzeugendste Version des Geschehens anzubieten haben - Anklage oder Verteidigung? Unauflösbar wird bleiben, wie es sich in Wahrheit zugetragen hat. Es gibt nur Indizien, Interpretationen und einen unsicheren Zeugen.
Durch den simplen und wirkungsvollen Kniff, private Kinder- und Jugendfotos der Hauptfiguren einzubeziehen, verführt die Regisseurin ihr Publikum dazu, »Anatomie eines Falls« als Dokumentarfilm wahrzunehmen. So weißt Justine Triet das Publikum deutlich darauf hin, wovon ihr Plot in erster Linie handelt: Nicht um die Lösung eines Falls, sondern um die Konstruktion von Realitäten und die verschwimmenden Grenzen zur Fiktion. Um die Herausforderung, die vielen, miteinander verwobenen Ebenen auseinander zu halten, um die Anstrengung, die es braucht, sich einfachen Lösungen zu verweigern.
Sandra Hüller spielt die Autorin Sandra als ganz und gar unabhängige Denkerin, als selbstbewusste Frau. Sie verschmilzt geradezu mit ihrer Figur, wirkt unfassbar authentisch. Ihre beeindruckende Autonomie wird der Autorin Sandra fast zum Verhängnis. Eine Frau, die gelassen mit ihrer Bisexualität umgeht und die (auch dies größtenteils gelassen) männliche Schuldzuweisungen abzuwehren oder ad absurdum zu führen vermag, ist noch immer ein Affront. Und so ist die Angelegenheit für den jungen Staatsanwalt (Antoine Reinartz) klar: Diese Schriftstellerin hat ihren künstlerischen Erfolg auf den Knochen ihres Ehemannes gebaut, ist ein kaltblütiges Monster, wie es ja auch ihre eigenen Romane nahe legen. Der Staatsanwalt entblödet sich nicht, mit Sandras Büchern, also mit Hilfe reiner (Auto)Fiktion starke Verdachtsmomente zu konstruieren. Seine zugespitzte inquisitorische Fragetechnik im Verbund mit verschieden auslegbaren Untersuchungsergebnissen und Zuschreibungen von Ermittlern und Psychologen, ihre vehementen Versuche, Sandra zur Schuldigen zu machen, weisen direkt in die Vergangenheit. Ein paar Hundert Jahre früher wäre eine solche Frau rasch auf dem Scheiterhaufen gelandet. Die Vergangenheit bleibt wirkmächtig, auch das führt »Anatomie eines Falls« deutlich vor.
Justine Triets Film überzeugt nicht nur durch das unvergleichliche Spiel Sandra Hüllers. Alle, auch die kleinsten Nebenrollen sind exzellent besetzt, bis hin zu den Statisten im Gerichtssaal. Erstaunliches leistet der junge Machado Graner als Sandras sehbehinderter Sohn Daniel. Am Ende steht die Frage, wie man nach Tod und Prozess weiterlebt. Es gilt eine neue Realität zu konstruieren.
Grit Dora
Semipro
Wie kann ich unvoreingenommen diesen Film schauen? Mir ein Urteil bilden? Bei aller Sympathie für Sandra Hüller, einer Goldene Palme von Cannes, und wenn ich vor dem Kinobesuch bereits erklären soll, ob ich hier ein pro oder ein contra abzugeben gedenke...
Ein Glück, dass weder Gunst, Palmen noch Vorhersagen wichtig sind. Es lebe die Ungewissheit! Sie ist quasi die kleine Schwester des Chaos. Welches zu verstehen und zu ordnen der sehnlichste Wunsch des Menschen ist. Im Rechtswesen manifestiert sich das Begehren nach einer möglichst einwandfreien Wahrheits-Formel. Ein Mann liegt tot im Schnee. Was ist passiert? Ehefrau Sandra (Hüller) und Sohn Daniel (Machado Graner) fragen als Erste. Später fragen Polizeibeamte und Pathologen, und auch Sandras Anwalt oder der anklagende Monsieur le procureur, selbst Snoop Dog scheinbar, der Hund..., alle wollen die Wahrheit wissen über Samuel (Theis). Der die Musik auf Repeat stellte und so laut drehte, dass es selbst die Leute fast aus dem Kinosaal treibt. Die eifersüchtige Intervention eines Musikstückes. Kurz danach ist Samuel tot. Zurück bleiben Sandra, ihr nahezu blindes Kind und ein Kinosaal voller fragender Gesichter. Denn Regisseurin Justine Triet mag uns alle lieber auf der Geschworenenbank sitzen haben. Jene, im Kino überaus übliche, Augenzeugenposition bleibt uns verwehrt. Triet ist Verfechterin von Ungewissheiten. Schwarz und weiß sind ihr fremd. Grau sei eher wie echtes Leben, raunt die frühere Dokumentarfilmerin.
Und so beleuchtet der Film wunderbar das „sich Verlieren“ in immer mehr Facetten und Variablen. Bereits Tonfall und Formulierung einer einzelnen Antwort beeinflussen jedes weitere Geschehen. Indizien tummeln sich, mangels belegbarer Fakten, und das Unwohlsein wächst angesichts fortwährend vorgetragener Interpretationen, Suggestionen oder gar Unterstellungen. Bei den Kinosaal-Geschworenen mehr noch als bei denen im Gerichtssaal. Wenn dem blinden Kind, das zur vermeintlichen Tatzeit nicht im Hause war, gerichtsfeste Erinnerungen verrutschen, muss die Frage nach dem, was wirklich passierte, unbeantwortet bleiben. Also stürzen sich Medien und der Staatsanwalt reflexartig auf alles Private, um wenigstens irgendeine kausale Kette zu schmieden. Und also gerät ersatzweise das Eheleben von Sandra und Samuel in den Zeugenstand. Je mehr Einzelheiten zur Sprache kommen, desto verwirrender wird das Bild. (Wie sagte ihre Laudatorin Renée Soutendijk bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises; Sandra Hüller sei ihre Filmfigur derart gut gelungen, dass sie womöglich selbst am Ende nicht wisse, ob diese schuldig sei oder nicht)
Und Justine Triet wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass genau hier das Wahrheits-Formel- Paradoxon liegt. Wie sagte der Geschworene Nr. 8 in dem Gerichtsklassiker von Sidney Lumet? Solange nur ein einziger Zweifel an der Schuld bestehe, könne kein Urteil gefällt werden. Und hier? Alle Beteiligten ziehen von allen Seiten an dem Tischtuch Wahrheit und das Fernsehen wusste es sowieso von Anfang an, das deutsche Monster ist schuldig. Apropos. Es ist sehr bedauerlich, dass die deutsche Filmfassung einem wesentlichen Teil der Geschichte überhaupt nicht gerecht werden kann. Denn mit der Synchronisation geht komplett verloren, dass hier eine deutsche Frau vor einem französischen Gericht des Mordes an ihrem Mann beschuldigt wird. Wenn Sandra Hüller mitten im Kreuzverhör mit ihren Emotionen ringt und dabei aus dem Französischen ins Englische und zurück wechselt, blendet sie auch unser Urteilsvermögen. Mit ihrer unwiderstehlichen Mischung aus bohrender Ehrlichkeit und ungeschminkter Unnahbarkeit hinterlässt sie uns zweifelnd. Es lebe die Ungewissheit: In dubio pro reo.
Rollo Tomasi