Zärtlich, brutal und leidenschaftlich
Pro
„Du musst an dein Herz glauben,... du musst dein Herz vergleichen mit deinem Gefühl.“ Noch nie klang Kino so einfach, so kinderleicht, noch nie schien eine Drehbuchidee zu finden, sozusagen, wie ein Kinderspiel. Und dabei den fertigen Film mit derselben kinderleichten Hand „Sterben“ zu nennen, und hoppla, allen im Land unmissverständlich mitzuteilen, dass sie auch damit gemeint sind. Chapeau, Herr Glasner, chapeau! Da macht einer sein Herz ganz ehrlich. Und sein erstes Gefühl ist Bitterkeit. Erschreckend und unerbittlich. Lissy Lunies sitzt in ihrem eigenen Dreck, selbst hilflos, und schlicht nicht in der Lage, ihrem Gerd, der halb nackt umherirrt, unter die Arme zu greifen. Lissy und Gerd, ein altes Ehepaar, er dement, sie inkontinent, beide todkrank mit Krebs, Diabetes oder Parkinson, rufen also nach ihren Kindern. Tochter Ellen will nicht, Sohn Tom kann nicht ans Telefon gehen. Die Gründe und die Zufälligkeiten enthüllt das wunderbar gebaute Drehbuch (Silberner Berlinale-Bär) erst in späteren Kapiteln. Die sich an unscheinbaren wie überraschenden Stellen elliptisch berühren. Manchmal stehen sie sich auch gegenüber wie Echokammern, wenn Siechtum und Freitod wetteifern, wenn die verhinderte Elternschaft gegen die regretting motherhood antritt, oder sie wechseln sich ab wie die Sätze in einem Orchesterwerk. Ein solches Werk dirigiert Tom (Lars Eidinger), Telefon im Flugmodus, überfordertes Jugendorchester vor sich, Komponist im Nacken, und alle, auch das Stück selbst, haben bis zur Premiere noch etlichen Ballast abzuwerfen.
So ähnlich ergeht es wohl Regisseur Matthias Glasner, als er mit 200 Drehbuchseiten und einem erstklassigen Team die Dreharbeiten beginnt. Das muss sich einer erstmal trauen; seiner verstorbenen Mutter die Harfouch (Deutscher Filmpreis Lola) auf den Leib zu schreiben und den Hans-Uwe Bauer (Deutscher Filmpreis Lola) im Filmplakat zu annoncieren „als meinen Vater“. Und sich dann als frisch gebackener Papa hinzusetzen, um über das Sterben in seiner Familie zu schreiben. Aufmerksam reichert Glasner seine Geschichte an mit allerlei Ballast, alltäglichem Groll und Gram. Auch wenn einer nie alkoholkrank war, wenn eine selbst nie ein Kind hat fallen lassen, eine Abtreibung verkraften, oder einen Infarkt hat aushalten müssen, nie mit dem Gedanken spielte, seinem Leben ein Ende zu setzen, oder den Wunsch verspürte, einer Gebärenden beizustehen ... dann finden sich eben andere Momente aus diesem Film, die einen bis nach Hause verfolgen werden. Wahrhafte wie das Statement Hoffnung des Komponisten, bittere wie Mutter-Sätze, beginnend mit „Schade, dass es nicht dein Kind ist...“, schöne wie den letzten leuchtenden Augen-Blick zwischen Vater und Sohn, unverständliche wie Ellens kurzen Bodyhorror-Trip, erheiternde wie ihr Filmriss-Erwachen in Riga. Unehrliche wie die Zweck-Affäre zwischen Tom und Ronja und ehrliche wie das traumatische Erdbeben zwischen Lissy und Tom. (Jäger und Sammler schleppen auch gern Jarmusch, Tweedy und Adams mit heim).
Sterben nervt. Es ruiniert deinen Tag, deine Woche, ..., ja, dein Leben. Doch es ist unerlässlich, darüber zu reden, zu schreiben und darauf zu schauen. Schön unsentimental gelingt das, romantisch glotzen sollen die anderen. Regisseur Glasner, dem glückliche Menschen in Filmen suspekt sind, lässt das Pendel ordentlich hin und her schwingen. Die Bitterkeit allenthalben, vor allem jene zwischen Mutter und Sohn, kontert er mit bröckelnden Backenzähnen oder bourgeoisem Brechreiz, Batterieproblemen bei Beerdigungen und mit den unvermeidbaren Baby-Partys. Dem besten Freund Bernard und seiner Badewanne gehört dann das beeindruckende Finale im Konzertsaal. Wo „Sterben“, das Musikstück (Deutscher Filmpreis Lola), fulminant und vollkommen live dargeboten, dann entschwindet, vor aller Ohren einfach verdunstet.
Rollo Tomasi
Semi-Pro
Dieser Film ist ein kleines Kinowunder. Er ist radikal persönlich, gute drei Stunden lang und ausufernd; vollgepackt mit sperrigen Themen wie dysfunktionale Familienbeziehungen, Geburt, Tod, Alkoholismus, Regretting Motherhood, Sterbehilfe, Kunstproduktion und -anspruch.
Total überfrachtet also. Was hat sich Regisseur Matthias Glasner wohl gedacht, als er dieses Mammutprojekt auf den Weg brachte? Ganz sicher hat er nicht nach den Preisen geschielt, mit denen »Sterben« nun völlig zu recht überhäuft wurde. Man spürt dem Film auch in seinen weniger gelungenen Passagen an, dass da jemand gearbeitet hat, für den es ums Ganze ging. Glasner, der auch das Drehbuch schrieb, verarbeitet viel Autobiografisches, lässt aber auch die persönlichen Erfahrungen seines Ensembles zu. Alle Figuren strahlen große Wahrhaftigkeit aus. Da sind die kranken Eltern, der pflegebedürftige Vater Gerd (Hans-Uwe Bauer) und seine überforderte Frau Lissy (Corinna Harfouch). Diese Elterngeneration, soweit nicht schon in die Demenz abgedriftet, verdrängt Konflikte oder teilt - wenn sie provoziert wird - gnadenlos aus. Corinna Harfouch spielt die Mutter mit einer überzeugenden Härte, die frösteln macht. Erst wenn ihr um Wahrhaftigkeit ringender Sohn von ihr ablässt, der Mann tot ist und niemand an ihrem Schutzpanzer kratzt, kann sie sich etwas Wärme erlauben - im weihnachtlichen Gottesdienst, ohne den Zumutungen der Familie ausgesetzt zu sein.
Die Kinder meiden den Kontakt eh: Tochter Ellen (Lilith Stangenberg) sucht die Verausgabung, den Vollrausch, wenn sie nicht gerade ihre Stunden als Zahnarzthelferin runterreißen muss. Stangenberg spielt das übersehene, stets im Schatten des großen Bruders stehende Kind mit aufreizender Lust an der Selbstzerstörung. Lars Eidinger liefert als Ellens Bruder Tom eine faszinierende Performance ab; spielt seine Figur mit enervierender Einfühlsamkeit, duldsam, großzügig, verständnisvoll, lässt aber auch dezente Künstler-Eitelkeit durchschimmern, eine Prenzlauer-Berg-Attitüde, die seiner Schwester den Magen umdreht. Wie dieser Tom versucht, es allen recht zu machen, den Vater zu sehen, sich mit der Mutter auszusprechen, seine Beziehungen und Exbeziehungen am Laufen zu halten und seinem depressiven Komponistenfreund Bernard (Robert Gwisdek) Halt zu geben, erzählt viel über die totalen Erfüllungsansprüche der Gegenwart. Nebenher probt der Dirigent eine komplexe, sich permanent verändernde Komposition, er hält die fragilen Fäden zusammen, bringt trotz aller Konflikte die Aufführung zustande, kann aber nicht verhindern, dass die Familie zerbricht.
In der Gegenüberstellung der Generationen, ihrer Konfrontation, erzählt »Sterben« auch exemplarisch von deutscher Geschichte, von der Härte, den Verdrängungsmechanismen der zu Kriegsende oder in der frühen Nachkriegszeit Geborenen. Und von den Nachgeborenen, in deren Leben der Krieg durch die Erfahrungen Eltern noch immer hineinragt. Wie sie der Sprachlosigkeit der Nachkriegskinder mit unterschiedlichen Strategien begegnen. Flucht in die Kunst und permanente Selbstreflexion oder Aufgehen in der Sucht - so oder so kreisen sie permanent um sich selbst.
Am Ende gibt es eine zweite Beerdigung und ein zweites Neugeborenes. Tom in der Vaterrolle und alles auf Anfang. Kreislauf des Lebens also und eine neue Familienaufstellung. Was wird er weitergeben?
Trotz der wahrhaft erdschweren Themen glänzt der Film auch mit Humor. Selbstironisch, mit teils großer Lakonie überspitzt oder unterläuft das Ensemble fast alle drohenden Klippen. Wenn einige Szenen ins Klischee rutschen, verzeiht man das diesem ansonsten sehr wahrhaftigen Film.
Grit Dora