9. Oktober 2013

Literaturklassikeralarm im Kino!

Pro und Contra »Michael Kohlhaas«
Literaturklassikeralarm im Kino!
Diesmal hat es Heinrich von Kleists »Michael Kohlhaas« erwischt. Die Redaktion des Kinokalender Dresden sieht das mit gemischten Gefühlen.

Semi-Pro:

Schon »Casino« lehrte uns: Die Bank gewinnt immer! Natürlich braucht es weder einen Blick zurück ins Jahr 1810, als von Kleist sein Werk »Michael Kohlhaas« veröffentlichte, noch die Verfilmung von Arnaud des Pallières, um zu wissen, dass die Mächtigen am Ende des Tages meist als Sieger dastehen. Trotzdem ist die Geschichte vom einfachen Mann, der sich aufgrund ihm widerfahrenen Unrechts gegen die Herrscher auflehnt, eine universale und immer wieder faszinierende.

Mads Mikkelsen spielt den titelgebenden Kohlhaas als stolzen Charakter, der sein Leben seiner Familie sowie seinen Pferden gewidmet und mit der Obrigkeit ansonsten nichts am Hut hat. Gleichwohl kennt er seine Rechte und wagt die Klage gegen einen Baron. Der hatte in einem Akt von Willkür zwei Pferde von Kohlhaas als Pfand für einen Passierschein verlangt. Als Kohlhaas später seine Tiere wieder abholte, waren die einst schönen, gepflegten Rappen vom harten Arbeitseinsatz gezeichnet, verletzt und beinahe wertlos. Nach drei gescheiterten Versuchen, bei Gericht Recht zu erhalten, spricht seine Frau persönlich bei der Prinzessin vor – und kehrt körperlich ebenso zerschunden zurück wie zuvor die Pferde. Aller legalen Mittel auf Wiedergutmachung beraubt, sieht Kohlhaas nur noch einen Ausweg auf Gerechtigkeit.

Es sind aktuelle und streitbare Fragen, die das Stück und, dank der angemessenen Adaption, auch der Film aufwirft: Was ist Gerechtigkeit? Endet sie, wenn das Gesetz sie einem Einzelnen verwehrt? Welche Mittel sind neben den gesellschaftlich akzeptierten zu ihrer Durchsetzung erlaubt? Handelt ein ehrbarer Mann wie Kohlhaas richtig oder ist er lediglich ein sturer Dickschädel, der aus purem Egoismus sprichwörtlich über Leichen geht? Regisseur des Pallières tut gut daran, seinem Publikum nicht mit der Moralkeule schwingend gegenüberzutreten. Viel lieber konfrontiert er seinen einmal mehr fabelhaft agierenden Hauptdarsteller mit der Zwiespältigkeit seiner Figur. Mikkelsen gelingt es dabei wunderbar, Kohlhaas nicht zu einem gefühllosen Monster zu formen, sondern als prinzipientreuen, lieben Familienvater darzustellen, der ähnlich wie einst Mel Gibsons Porter im Gangsterspaß »Payback« „nur seinen Anteil zurückwill“ – allerdings mit sehr viel mehr ernsten Zwischentönen.

Die beeindruckende Kameraarbeit von Jeanne Lapoirie spiegelt dabei den inneren Zustand von Kohlhaas kongenial wider: Je mehr Kohlhaas sich in seinem Kampf verbeißt, desto karger werden die weiten Landschaften, die er mit seinen Anhängern durchstreift. Überhaupt hat der Film trotz seiner Ansiedlung im 16. Jahrhundert optisch sehr viel von einem Western: Panoramabilder soweit das Auge reicht.

Und doch gibt es etwas zu bemängeln: Als würde des Pallières dem mimischen Können seines Hauptdarstellers nicht vertrauen, nimmt er sich im Mittelteil ein wenig zu viel Zeit, um Kohlhaasʼ inneren Konflikt von anderen für das Publikum erklären zu lassen. Diese überflüssige Langatmigkeit fällt um so mehr auf, da Szenen wie zu Filmbeginn oder später beim überraschenden Auftauchen der Prinzessin vor Spannung förmlich bersten: Hier entscheidet jede Geste, jedes Wort über den Ausgang der Konfrontation. Daher ein Hinweis für Kinobesitzer: Sollten hiernach Armlehnen an Kinosesseln zerkratzt sein, bitte an den Regisseur wenden!
Abgesehen von dem genannten kleinen Manko zwischendrin empfiehlt sich »Michael Kohlhaas« als ein lehrreiches Filmstück über die Macht des kleinen Mannes und des Widerstands. Auch wenn das Ende unverändert bleibt (wir erinnern uns: „Die Bank gewinnt immer!“), so hilft ein wenig Rebellion gegen bestehende Zustände doch, um Obrigkeiten zumindest wachzurütteln.

Ähnlichkeiten zu aktuellen Ereignissen sind natürlich rein zufällig.

Csaba Lázár


Contra
Arnaud des Pallières inszeniert Weltliteratur mit Mads Mikkelsen als großes Kino. Das bildgewaltige Drama kann sich in der schroffen Felslandschaft der Cevennen bis zu seinem tragischen Ende entfalten. Stars des deutschen Kinos wie Bruno Ganz und David Kross oder der Spanier Sergi López spielen in weiteren Rollen der internationalen Koproduktion, in der u.a. die Berlinerin Anina Diener die Kostüme entwarf und die MDM förderte. Keine Frage, Mads Mikkelsen prägt den Film, beherrscht die Leinwand mit seiner puren körperlichen Präsenz. Die Kamera findet großartige Bilder der vorwiegend im Freien spielenden Handlung, eine Mischung aus ruhigen Totalen, ungewöhnlichen Blickperspektiven und teils surrenden Einstellungen. Der wunderbare Soundtrack von Martin Wheeler findet das richtige Maß. Formal, ohne Frage, ein beeindruckender Film.

Trotzdem wirkt Kohlhaas Suche nach Gerechtigkeit spätestens nach einer Stunde wenig mitreißend – emotionslos und das bei solch einem Thema! Liegt es an der distanzierten Spielweise von Mikkelsen, der eher introvertiert angelegten Figur, die seine Wut nicht einfach in die Berge schreien darf oder wie entfesselt im Kampf morden. Dieser Kohlhaas bleibt gesetzt und verkündet statt dessen Werte.

Der ursprüngliche Ansatz der Reduktion der erzählerischen Vorlage versiegt spätestens nach dem Überfall auf die Burg. Bis dahin erzählen wie in Stein gemeißelte, in die Hitze des Spätsommers der rohen Hochebene gesetzte Szenen ohne große Worte. Danach mutiert der Film zu einer Art Western oder Abenteuerfilm mit fehlenden Actionelementen, bis er kurz nach der etwas zu pathetischen inszenierten Waffenniederlegung der Kämpfer in den geruhsame Erzählstrom zurückfindet. Zum Schluss darf Bruno Ganz die bittere Moral der Geschichte verkünden und das Henkerschwert erscheint drohend über Mads Haupt.

Welch großartige Themen von aktueller Brisanz, welches Feuer in den Kleistschen Figuren! Wo bleiben die Wut, das mörderische Rasen des Helden, das Unrecht? Mads Mikkelsen als Wutbürger oder Selbstmordattentäter, was für eine Aussicht!
Ein formal streng durchkomponierter Film hätte aufsehenerregend, zumindest unbedingt sehenswert sein können. So bleibt Arnaud des Pallières Verfilmung recht emotionslos und einer Neuinterpretation der sprachgewaltigen Erzählung verschlossen. Den Zuschauer entlässt er ratlos und vermutlich auch etwas ermattet ob der Länge.
Mersaw