1. November 2013

Hat das Kinojahr seinen besten Film gefunden?

Pro und Contra » Gravity«
Hat das Kinojahr seinen besten Film gefunden?
Oder sind die Lobhudeleien für Alfonso Cuaróns neues Werk »Gravity« doch übertrieben? In der Redaktion des Kinokalender Dresden stellt sich diese Frage nicht.

Pro (1):

2006 war schon fast vorbei, als sich mit »Children of Men« plötzlich ein Film in die Kinos schlich, der ob seiner düsteren Geschichte und visuellen Brillanz für Schnappatmung beim Verfasser dieser Zeilen sorgte. Die leichtfertig bereits im November fertiggestellte persönliche Top-3-Jahresbestenliste landete im Müll und mit »Children of Men« plötzlich auch ein neuer Regisseurs-Name auf Platz eins. Und dann? Sieben Jahre Funkstille aus Camp Cuarón!

Bis 2013 plötzlich die ersten Vorboten von »Gravity« in der Weiten Wilden Welt des Internet auftauchten: Ein Zwei-Personen-Stück? Handlungsort Weltraum?? In 3D??? Zugegeben, die Skepsis war groß, zumal lediglich die Prämisse, dass zwei Astronauten bei Reparaturarbeiten an der Außenseite ihres Shuttles ins All geschleudert werden, für einen abendfüllenden Spielfilm nicht unbedingt ausreichend schien. Die Skepsis wuchs weiter, als erste Rezensenten von einem „Meilenstein“ und „würdigen »2001«-Nachfolger“ berichteten. Wäre ja nicht die erste Übertreibung dieser Art.

Blöd ist’s nur, wenn man sich nun selbst dabei erwischt, eben jene Floskeln runterzubeten, sobald nach einer Meinung zu »Gravity« gefragt wird. Aber was gibt’s da noch groß zu argumentieren: Cuarón IST ein Meilenstein gelungen, sein 90-minütiger Trip außerhalb der Erdatmosphäre ZWEIFELLOS nur mit dem Erst-Seherlebnis von »2001 – Odyssee im Weltraum« zu vergleichen, auch wenn die Geschichte natürlich anders verläuft. »Gravity« ist bei weitem weder so verkopft noch inhaltlich verschwurbelt wie Kubricks Ausnahmewerk. Auch muss hier nicht über Sinn und Bedeutung irgendwelcher seltsamer Objekte im Orbit philosophiert werden, sondern stehen zwei Figuren im Mittelpunkt, die abgeschnitten vom Rest der Menschheit ums Überleben kämpfen. Zu guter Letzt verzichtet Cuarón zudem auf gewagte Filmschnitte à la Knochen/Raumschiff, die sich für immer ins Gedächtnis einprägen sollen. Überhaupt wird die Suche nach irgendwelchen Schnitten in »Gravity« für jeden Zuschauer wohl eher wie jene nach der bekannten Nadel im, naja, Sternenhaufen. Was er einst in „Children of Men“ schon andeutete, perfektioniert der 51-jährige Regisseur hier mit Bravour: Perspektivwechsel im Minutentakt, allerdings ohne einen sichtbaren „Cut“, stattdessen eine entfesselte Kamera, die eine komplette Antithese zum Titel des Films darstellt. Viel Glück dabei, auch nur die ersten fünf Minuten die Bodenhaftung nicht zu verlieren oder aus dem Kinosessel zu kippen!

Was »Gravity« neben seiner optischen/technischen Genialität allerdings wirklich zum Meisterwerk macht, ist Cuaróns Cleverness, nicht den gleichen Fehler zu begehen wie Kollege James „Avatar“ Cameron (der bezüglich »Gravity« übrigens ebenso voll des Lobes ist): Während der Blaumann-König, wie er mehrmals offen zugegeben hat, zuerst die Technik und dann erst darauf aufbauend das Drehbuch entwickelte, warteten Alfonso und sein Co-Autor, Sohnemann Jonás, nach dem Verfassen der Vorlage lieber mehrere Jahre, bis die Technik ihren Ansprüchen genügte. So ist »Gravity« letztendlich zwar ein Film, der im All spielt, aber im Grunde nicht mehr als ein von seinen beiden Charakteren getragenes Kammerspiel in einer ungewohnten Umgebung – das somit genauso wunderbar in der Zweidimensionalität funktioniert, wie eigene Recherchen ergeben haben. Tja, James…
Umso größer auch mein Respekt für die Darsteller George Clooney und vor allem Sandra Bullock: Eine große Kameralinse vorm Gesicht, Green- und Blue-Screens im Hintergrund und ihre pure Imagination beim Spielen mussten genügen, um dieses kinematografische Wunder für den Kinobesucher lebendig werden zu lassen. Wer so was kann, kann auch Oscar!

Hat also das Kinojahr tatsächlich seinen besten Film gefunden? Zumindest meine persönliche Top-3-Jahresbestenliste ist nun wieder um einen Kandidaten reicher.

Csaba Lázár

Pro (2):

Es gibt Filme, die verändern alles, viele andere rauschen recht klanglos durch den Kinotagesbetrieb.
»Gravity« hält die Zeit an und die Zuschauer in Atem.

Um seinen Regisseur Alfonso Cuarón, der sich mit seinem mexikanischen Erstling »Sólo con tu pareja« bereits für Hollywood empfohlen hatte und zwischendurch mit einem optisch herausragenden »Harry Potter und der Gefangene von Azkaban« für Aufmerksamkeit sorgte, war es ruhig geworden. Nun mit einem Schlag ist er zurück.
»Gravity« erscheint auf den ersten Blick wie ein Zwei-Personen-Stück im Weltall, das klingt nicht sehr sexy, ein Kammerspiel als Science-Fiction. Doch Cuarón ist ein besonderer Regisseur, er weitet dieses Ausgangsstück zu einem das moderne Kino revolutionierenden Film. Er bedient viele Genres, »Gravity« ist hochspannender Science-Fiction, Melodram, Actionfilm und auch hochwertiges Autorenkino. Wie nebenbei gelingt es Cuarón, dass darniederliegende 3D Effektekino zu neuen Leben zu erwecken und atemberaubend neu zu inszenieren.

Zwei grandiose Darsteller tragen »Gravity« – Sandra Bullock und George Clooney. Sie haben die scheinbar leichte Aufgabe, in dem irrwitzig spannenden Plot als einzige Verbliebene einer NASA-Mission, zu versuchen, zu überleben. Sandra Bullock spielt Dr. Ryan Stone, sie ist nach dem Tod ihrer Tochter traumatisiert, George ­Clooney ist Matt Kowalsky, der gut gelaunte und ­attraktive Cowboy. Die beiden sind nicht nur im riesigen Weltenall einsame Herzen. Ein Happyend für beide ist unmöglich, im Kosmos wie auf der Erde. Denn, altbekannt, treiben wir Menschen öfter ziellos durch die Existenz in dieser unendlichen, kalten Welt. Manchmal aber können wir das Schicksal am Zipfel fassen. Da weitet sich der Film über den Horizont typischer Mainstreamware. Das ist zwar simpel, nicht zwingend große philosophische Erörterung, aber von schlichter Erhabenheit.
Was kann Regisseur mehr? Eigentlich nichts weiter. Der Kassenerfolg weltweit und die wohlwollend bis euphorischen Kritik geben ihm einfach recht. Schlecht­gelaunte Kritiker und Zuschauer könnten ihm vorwerfen, dass technisch gesehen, die Raumstationen gar nicht so nah beieinander wären, die Realität des Plots in Frage stellen. Oder mäkeln, dass wiedermal die bösen Russen die Auslöser der Katastrophe sind. Aber viel mehr ist da nicht zu kritisieren.

Seine Geradlinigkeit und Klarheit lassen aber auch Ecken und Kanten vermissen, der Film erstrahlt ­regelrecht im makellosen, kosmischen Glanz. Gerade das macht »Gravity« eben nicht zum Kultfilm. Einen solchen zeichnet auch das Unsaubere aus. Das kann man ­schade finden, Gravity bleibt aber ein Meilenstein!
Mersaw