26. April 2019

Sparsame Verschiebung der Realität

Kritik, Pro & Contra – »Border« die sparsame Verschiebung der Realität ins Phantastische oder Trollepos
Sparsame Verschiebung der Realität

Stellt die sparsame Verschiebung der Realität ins Phantastische Wahrnehmungsgewohnheiten und Wertungen in Frage, oder bekommen wir hier ein Trollepos erzählt?  Unsere Kritiker sind sich da nicht ganz einig.


Pro
Es beginnt mit der Großaufnahme einer Hand, die durchs Gras fährt und zärtlich ein Insekt aufnimmt. Die das Insekt dann vorsichtig wieder absetzt. Die kurz geschnittenen Nägel sind nicht ganz sauber. Die erste Irritation: Wann hab ich das letzte Mal derartiges formatfüllend im Kino gesehen – eine ganz alltägliche Hand mit Dreckrändern? Sie wirkt fremd, weil nicht von gewohnter, maskenhafter Kino-Künstlichkeit. Diese Einstellung enthält schon auf zeichenhafte Weise die Absichten des Regisseurs: Ali Abbasi stellt durch eher sparsame Verschiebungen der Realität ins Phantastische Wahrnehmungsgewohnheiten und Wertungen in Frage. 

Die Hauptfigur Tina, eine in vielerlei Hinsicht nicht den Normen entsprechende Frau mit einer besonderen Begabung (sie ist in der Lage, die Gefühle von Menschen zu riechen) erfährt, dass sie jemand anderes ist, als sie bisher zu sein glaubte. All ihre bisherigen Erlebnisse, Erfahrungen und Wertungen stehen mit einem Mal auf dem Prüfstand. Am Ende kann Tina die Entscheidung treffen, etwas modifiziert so weiterzuleben wie bisher, das heißt als geduldete Monstrosität in der Welt der Menschen oder ein ihrer Art gemäßes Minderheitenleben zu führen.

Wie Ali Abassi das inszeniert, ist in seiner Schlichtheit grandios. Er stellt Elemente verschiedener Filmgenres ganz selbstverständlich nebeneinander (Horror, Grusel, Krimi, Sozialrealismus) und hebelt damit Sehgewohnheiten aus. Beim Zuschauen stellt sich immer wieder die Frage: Das kann er doch jetzt nicht einfach so bringen, oder? Doch, tut er. Und mutet seinem Publikum immer wieder zu, das eigene Bewertungssystem zu befragen. Die Antworten sind unbehaglich. Andersartigkeit bleibt eine Herausforderung. Toleranz ist unter Umständen etwas sehr Theoretisches. Das diffuse Unbehagen, wenn man etwa Abbasis Trollen auf der Leinwand beim Sex zuschaut und mit der superästhetischen soften Sexszene zwischen Frau und Fischmann in »Shape of Water« vergleicht, macht einem die eigenen Grenzen schmerzhaft bewusst. Die sind unter Umständen deutlich enger gesteckt als geglaubt. Es erfordert dann schon einen kleinen Kraftakt, sich darüber hinwegzusetzen. Toleranz ist eben nur einfach, solange man nicht ganz direkt mit dem Fremden konfrontiert wird.

Abbasis unbequeme Fragen verhindern nicht solidarische Gefühle mit Tina, die trotz ihrer ungewöhnlichen Optik (man darf annehmen, dass sie ein Leben lang gemobbt wurde und sich damit abgefunden hat, anormal zu sein), ihren besonderen Fähigkeiten menschlich genug bleibt, um auch als Identifikationsfigur zu taugen, die die eigenen Abweichungen von der Norm, das unterschwellige Leiden am Druck der Schablone spüren lässt. 

Nicht zuletzt wirkt »Border« trotz seines auf vielen Ebenen funktionierenden ambitionierten Grenzgängertums in einigen Passagen verspielt, oder gar romantisch. Dass Tiere mit Außenseitern solidarisch sind, möchte man gern glauben. Und im Kontrast zwischen den Naturbildern in der Waldeinsamkeit, den Großaufnahmen von Moos und Wassertropfen auf der einen Seite und den Aufenthaltsräumen der Menschen, ob Flughafen oder Wohnzimmer auf der anderen Seite, zeigt Ali Abbasi einmal mehr die ameisenhafte, zerstörerisch-hässliche Welt unserer Spezies, die sich auch in den Gesichtern spiegelt. Nur weil etwas Norm ist, ist es noch lange nicht erstrebenswert.

Grit Dora

 

Contra

Manchen Filmen eilen Kritikerlob und Hochachtung voraus und das deutsche Feuilleton überschlägt sich, zufällig besonders dann, wenn es in Cannes Preise oder lobende Anmerkungen gab. So auch in diesem Fall. »Border« ist der zweite Spielfilm des iranischen Regisseurs Ali Abbasi, der 2002 zum Studium nach Europa kam und jetzt in Kopenhagen lebt. So ist die Erwartungshaltung im Kinosaal riesig und was kann man da auch noch sagen.

Vielleicht so. Ein unerwarteter Grenzgänger, der Spaß beim Schauen und Rätseln macht. Der voller Ideen steckt, Trennungslinien auflöst und Freude beim Schauen bereitet. Der aber auch teils abstößt, Längen hat und für feinfühlige Menschen schwer zu ertragende Darsteller und Szenen bietet. Doch der Reihe nach. Die Geschichte erscheint kompakt und nachvollziehbar, bietet am Ende auch einen unerwarteten Twist. Doch ist es für den ­Zuschauer schwer, Sympathien für die Darsteller zu empfinden, eher noch für Tina, dem menschlicheren Wesen. Schwere dunkle Geheimnisse brechen auf, das Leiden an der Gesellschaft mit seinen modernen Auswüchsen, immerhin hier das schwedische Gemeinwesen wird thematisiert. Vielleicht hätte ein etwas entspannterer Plot dem Film besser getan, der Pädophilen-Ring wirkte etwas aufgesetzt auf die nordisch-folkloristische Basis des Films. Neben der Lesart „eine universelle Parabel über Tribalismus, Rassismus und Angst vor dem Fremden“ könnte durchaus auch die einer re­aktionären, rückwärts gewandten Trollerei möglich sein. Oder erscheint es sinnvoll, das moderne Schweden den Trollen zu überlassen? Was passiert dann beispiels­weise mit den Menschen? Egal, Tina widersteht, am Ende ist sie geläutert und sieht das Leben aus einer neuen ­Perspektive.

Die Kameraarbeit passt sich der gefunden Erzählweise gut an, ist aber kein Höhepunkt oder erreicht die Opulenz der einer anderen Verfilmung eines John Ajvide Lindqvist Werkes - »So finster die Nacht«. Die Bildgestaltung war aufsehenerregend und katapultierte Hoyte van Hoytema in die erste Liga der Kameramänner (u. a. »James Bond 007: Spectre« und »Dunkirk«). Für »Border« bildete eine Kurzgeschichte Lindqvists die Vorlage für das Drehbuch, das von Ali Abbasi, Isabella Eklöf und John Ajvide Lindqvist gemeinsam bearbeitet wurde. Vielleicht liegt hier auch die Ursache der fehlenden Kompaktheit der Filmerzählung, sozusagen das fehlende Quentchen für einen Klassiker.

Und sind damit eine gewisse Unausgewogenheit und auch Längen des Films zu erklären. Oder Ali Abbasi hat bei der Inszenierung etwas unentschieden zwischen den Genres laviert und damit den perfekten Film verpasst.   

Mersaw

https://www.wildbunch-germany.de/movie/border