Deutsches Kindheitsmuster - Perfekter Kinotop oder weichgespülte Autobiografie?
Pro
Hans-Peter Kerkeling wächst in den 1970er Jahren im Ruhrpott auf, erst auf dem Dorf, dann in Recklinghausen. Eine behütete Kindheit im Schutz der Großfamilie, Eltern, Bruder, Ommas und Oppas, Tanten und Onkel. Der Vater ist meist abwesend, weil auf Montage, was Hans-Peters Mutter schwer zu schaffen macht, mehr als den Kindern. Oma Bertha kocht die Leibspeisen und Oma Änne stärkt das Selbstbewusstsein des Jungen mit der Anschaffung eines Pferdes. Großzügig ist die Familie auch in der Akzeptanz von „abweichendem“ Verhalten – dass der Junge zum Karneval als Prinzessin gehen will, wird nicht lang in Frage gestellt, sondern akzeptiert und geschützt.
Heile Welt also bei den Kerkelings, in die aber der Krieg noch voll hineinragt. Opa Willis Erinnerung an die Heimkehr, Mutters Angst vor Sirenentönen, die Weinanfälle von Tante Annemarie bei Familienfesten: Caroline Link zeigt in ihrer Verfilmung von Hape Kerkelings Autobiografie »Der Junge muss an die frische Luft« ganz konkret die feinen Verästelungen der transgenerationalen Kriegsauswirkungen auf Erziehung und Entwicklung der Kriegsenkel, also der heute 50- bis 60jährigen.
Die depressiven Verstimmungen von Hans-Peters Mutter werden durch die funktionierende Familie lange abgefedert. Sprachlosigkeit zwischen den Generationen passiert zwar zwischen Eltern und Kindern (so tun die Großeltern, die Lädierungen ihrer eigenen Kinder ab – „Was denn los, ist doch nur Probealarm!“) und erwarten das sprichwörtliche Zusammenreißen, während sie durchaus in der Lage sind, warmherzig auf ihre Enkel einzugehen. Hans-Peter stellt sich die Aufgabe, seine Mutter aufzuheitern, die immer mehr in ihrer Depression verschwindet. Kleine Sketche, das Nachspielen von Situationen im familieneigenen Tante-Emma-Laden lassen seine große komödiantische Begabung aufblitzen, manchmal lächelt die Mutter noch. Sie zu retten gelingt ihm nicht, die Art ihrer letzten Begegnung und ihr Suizid lassen ihn voller Schuldgefühle zurück. Es gelingt ihm, aus der belastenden Situation letztlich unbeschadet hervorzugehen, weil ihn wiederum die Familie auffängt – und weil ihm seine Entertainer-Qualitäten, sein komödiantisches Talent, sein Humor die nötige psychische Widerstandsfähigkeit verleihen. Anhand einer Schultheateraufführung zeigt die Regisseurin, wie der Junge in einer Nebenrolle die Figur des Horst Schlämmer anlegt, die der spätere Hape Kerkeling zu einem seiner Markenzeichen ausbaute.
Die Verfilmung der Kindheitserinnerungen des großen Komikers ist feines sensibles und über weite Strecken fröhliches Familienkino. Caroline Link hat einen großartigen Cast versammelt – Hedi Kriegeskotte, Ursula Werner, Joachim Krol und Rudolf Kowalski als die Großeltern, Luise Heyer und Sönke Möhring als die Eltern und den großartigen Julius Weckauf als Hans-Peter.
Ohne jegliche Heimattümelei entsteht in großen Bildern und kleinen Gesten ein atmosphärisch dichtes, deutsches Kindheitsmuster.
Grit Dora
Contra
Schon der zweite Kinofilm, der sich mit der Person Hape Kerkeling auseinandersetzt. Der beeinflusst damit die deutsche Medienlandschaft maßgeblich, ohne persönlich im Showgeschäft zu erscheinen. Das ist schon mal eine bemerkenswerte Leistung. War »Ich bin dann mal weg« noch solides Kino mit immerhin zwei Millionen Besucher, reduziert Carolin Link die Romanvorlage auf das Wesentliche, den Extrakt sozusagen und wirft Ruhrpottromantik und die vielen Geschichten über Bord. Darf sie denn das? Klar kann sie das! Doch Moment! Bei allem Respekt für das geschaffene gibt es doch einiges zu kritisieren.
Die Reduktion auf die großen Themen lässt natürlich den Realismus im Film auf ein kritisches Maß sinken. Das soziale Milieu wirkt weich gezeichnet bzw. ist gar nicht existent. Irgendwo zwischen sanften Wiesen im Dorf, Pferden und dem Umzug in die Stadt, in eine eher kleinstädtisch wirkende Straße, vollzieht sich das Leben in den 70ern. Dass die Bedingungen sicherlich nicht so einfach waren, lässt sich höchstens an Hans Peters Vater erahnen, der meist abwesend ist, sich scheinbar auswärts verdingen muss. Kann natürlich auch positiv gesehen werden, kein Klein-Klein mit Alltagssorgen und so. Auch deutsche Geschichte kommt vor. Mutters Probleme mit der Sirene deuten nur ganz kurz mögliche Kriegsfolgen an. Opas Rückkehr aus dem Krieg, der dreiwöchige Marsch zu seiner Frau schafft es hingegen zum wiederkehrenden Thema: „Wenn man sich anstrengt, schafft man alles“. Kann sein, nur wird eben nicht aus jedem ein Hape. Es scheint also noch andere Faktoren zu geben.
So setzt sich die einfache Erzählweise auch in der undifferenzierten Figurenzeichnung fort. Joachim Król darf den kauzigen Opa geben und mit Hans Peter unter dem Sternenhimmel schlafen. So richtig helfen kann er leider nicht, nur tieftraurig in die Kamera schauen. Nicht nur leicht unterfordert wirkt dabei Joachim Król. Ähnlich ergeht es Rudolf Kowalski, der den Opa väterlicherseits spielen darf. Eine komische Szene beim Besuch der Jugendhilfe muss reichen, den Rest der Zeit darf er wissend den Kopf nicken und kann keinen überzeugenden Opa geben. Einzig Ursula Werner, die Berlinerin, vermag als Oma väterlicherseits die Leinwand mit ihrer Präsenz zu füllen und der versammelten Darstellerriege zeigen, wie gespielt wird. Ähnlich stark nur noch die andere Oma, Hedi Kriegeskotte gibt sie weltoffen, leicht subversiv. Sie ist es auch, die dem kleinen Hans Peter die vielleicht wichtigste Regel mitgibt: „Hör nicht auf die Leute!“. Ausgenommen bleibt natürlich auch Julius Weckauf, der den siebenjährigen Hans Peter spielt. Wobei hier der kleine Makel bleibt, dass sein Dialekt nicht so ganz in den Pott gehört.
Der Humor des Films gestaltet sich dann ähnlich. Ganz nett und bestens in die kleinbürgerliche Heimat passend. Am Ende des Films wird es dann aber doch arg. Die gefühlsüberdrehte Szene an einem Frühlingstag, in der der Autor auf seinen Kinderdarsteller trifft. Das ist dann wirklich zu dick aufgetragen.
Auch störend die teils grenzwertige Filmmusik. Insbesondere zu Beginn werden die Szenen regelrecht zugekleistert mit der sehr dominanten und irgendwie auf Morricone für den neuen deutschen Film getrimmten Filmmusik. Ab der Mitte wird es gefühlt besser, ergänzen zeitgeschichtliche Lieder die Handlung und geben dem Film einen nachvollziehbaren Rahmen.
Kritisch ist auch die Ausstattung des Films zu hinterfragen. Das Budget sollte ja über einem TV-Mehrteiler gelegen haben. Aber teils strahlen die Szenen nur TV-Serien Charme aus, der Karneval z. B. wirkt milde ausgedrückt glanzlos, wenige Statisten und viel leere Straße. Die Reduzierung auf die Innenräume wirkt auch nicht immer kinogemäß. Die Kameraarbeit rundet den Eindruck ein wenig ab.
Insofern können wir dann doch von einem einheitlichen Gesamterlebnis sprechen, welches in der Summe korrekt ist. Ob es nun richtig guter Kinotop ist, darf allerdings jeder für sich entscheiden.
Mersaw