11. April 2023

Echtes Hollywood in Dresden!

Die Dresdner Philharmonie auf der großen Leinwand – Großes war zu erwarten. »Tár«, Kritik, Pro & Contra
Echtes Hollywood in Dresden!

Echtes Hollywood in Dresden, die Dresdner Philharmonie auf der großen Leinwand – Großes war zu erwarten. In der Redaktion wird das Ergebnis jedoch unterschiedlich bewertet.  

 

Pro

Auf den Gipfeln der Kunstwelt weht es rau, das Hochplateau ist winzig. Die Dirigentin Lydia Tár (Kate Blanchett) hat es an die Spitze geschafft, alle wesentlichen Preise (Emmy, Grammy, Oscar und Tony) im Regal, sie ist auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Wenn die klassische Musikwelt inszeniert wird, geht das ja häufig mit der Vergötterung oder Dämonisierung der kunstschaffenden Hauptrolle einher. Ein gern gemachter Kniff ist auch, beides zu verbinden, schön melodramatisch. Ganz anders geht Todd Field (»In The Bedroom«, »Little Children«) vor. Auch er lässt den Glanz und die Dämonen einer Künstlerin (und Chefin) vorkommen. Vor allem aber zeigt er die Knochenarbeit dahinter. Neben der künstlerischen Arbeit stellt er das ganze notwendige Bohei drumherum dar, das aufwendige Marketing, die Sorge um den Marktwert, die Eitelkeiten. Field inszeniert den Aufwand, den es braucht, die Rolle perfekt auszufüllen, den Oberflächenglanz herzustellen (allein die Stunden beim Maßschneider). Wie viel Selbstdisziplinierung und Effizienz nötig ist, und was dabei flöten geht: die tragenden Arbeits- und Liebesbeziehungen. Der Regisseur nimmt sich drei Stunden Zeit, um vorwiegend schnöden Alltag zu erzählen und langweilt nicht eine Sekunde. Wir sehen die (fiktive) Dirigentin Tár bei langwierigen Proben mit dem weltberühmten Orchester, dem sie als erste Frau vorsteht, bei der Bewertung von Vorspielen, beim Joggen, Komponieren, den unendlich vielen Langstreckenflügen und Kurzstreckenfahrten - und in raren, vollständig vom Künstlerin-Sein dominierten, privaten Momenten mit Ehefrau und Tochter. Jederzeit findet Repräsentieren und Darstellen, Leiten, Lenken und Manipulieren statt. Dieser Film verweigert die Erlösung, den üblichen Höhepunkt im ekstatischen Konzertmoment. 

Faszinierend, wie Cate Blanchett Társ künstlerische Souveränität und ein gerütteltes Maß an Gnaden- und Skrupellosigkeit darstellt. Ihre Sensibilität, ihre Selbstgerechtigkeit. Ihre Verführungskraft und Verführbarkeit. Und die perfekte Adaption männlicher Verhaltensweisen in Machtpositionen. Todd Field bewertet nicht. Aber er lässt sie über ihre Machtfülle stolpern, stürzt sie vom Olymp und aus ihrer Hochkultur-Blase. Er verzichtet auf die Katharsis. Nach dem Fall macht Tár einfach weiter. Ist das ihre Schwäche oder ihre Kraft? Diese überragende virtuose Ambivalenz zieht sich durch den gesamten Film und ist irre spannend. Wie Macht korrumpieren kann, wurde so noch nicht inszeniert. Skandalös, dass es dafür keinen Oscar gab.

Grit Dora

 

Contra

Echtes Hollywood in Berlin und Dresden, die Musiker der Dresdner Philharmonie auf der großen Leinwand, deutsche Presse und die lokalen Medien aus dem Häuschen – Großes war zu erwarten. Gemeinsam mit dem Publikum fieberten alle Medien dem Filmstart entgegen, natürlich war der Film oscarnominiert, und so stellte sich die Frage aller Fragen. Doch schade, aber die Presse feiert großteils den Film, vielleicht sind manche Zuschauer eher irritiert.

Schauen wir uns das Dilemma genauer an. Todd Field schafft ein klar strukturiertes und streng formales Drama, in dem alle Gewerke professionell und auf hohem Niveau umsetzen. Filmkomponistin Hildur Guðnadóttir wird nicht nur inhaltlich einbezogen, sie liefert einen wunderbaren Soundtrack. Letztlich ist es aber ein Drama, das passgenau auf Cate Blanchett zugeschnitten ist und zur Superperformance der Ausnahmeschauspielerin gerät. So weit, so prima. Doch der Reihe nach. 

Es gelingt Todd Field nicht, das Werk mit echten Menschen, spannenden Entwicklungen und einer emotional mitreißenden Fallhöhe auszustatten. Warum? Erst nach über dreißig Minuten Einführung in die Welt des letzen Universalgenies Tár, von allen nur Maestro genannt, betreten wir ihre Alltagswelt bzw. das, was wir dafür halten sollen. Zurück aus dem Nabel der Welt NYC begleiten wir Maestro in ihre Familie, die Proben zum glorreichen Abschluss ihres Schaffens und wundern uns. Alles ist so schick, aber irgendwie uninspiriert. Der Stuttgarter Elektroporsche rast durch ein seltsames Berlin, eine Betonwüste wird als ihr Heim vorgestellt, eine etwas andere Nachbarin darf zweimal schreien und Episoden mit dem Tinitus deuten Seltsames an. Auch die Beziehung zur Tochter wird als wesentlich proklamiert aber nur sehr lieblos ausgeführt. Leider gilt das auch für Nina Hoss, eine großartige Schauspielerin, die aber ihre Rolle als graues Mäuschen, als liebende Partnerin, die nur auf Zuruf wichtige Sätze sagen darf (außer am Ende, da kommt auch ein wenig Emotion), vermutlich drehbuchgemäß abliefert. Schade!

Vermutlich sind viele Dinge dem Umstand geschuldet, dass die Produktion vorrangig für den englischsprachigen Raum erfolgte. Das reizende, wunderbar geschichtsträchtige Kolorit Berlins wurde dankbar mitgenommen, auch einige deutsche Schauspieler durften mitspielen und brav ihre englischen Vokabelkenntnisse aufsagen. Es bleibt aber im Kern eine sehr US-amerikanische Sicht auf die Geschichte, die Musik und die Figuren. Ein wenig wirkt der Film wie eine Stefan Zweig Erzählung, viel romantischer Pathos und lebensfremd.

Die ständige Vermengung von Fiktion und Realität tut der Geschichte nicht unbedingt gut. Einerseits Lydia als machtbesessene und neurotische Persönlichkeit in einer unrealistisch wirkenden Klassikwelt, andererseits sehr realistische und teils irritierende Szenen wie die mit der gestürzten Nachbarin.

Die geringe Fallhöhe führt  dazu, dass die anfänglich beiläufig erwähnten Schwierigkeiten mit der ehemaligen Assistentin keine wirkliche Überraschung darstellen. Die Zuschauer werden sich eher fragen, war das ein Post-#MeToo Film, der seltsamerweise keine Partei ergreift oder eher das Psychogramm eines toxischen Genies. Dass Frauen auch nur Menschen sind, dürfte bekannt sein, ebenso, dass das persönliche Umfeld und die Öffentlichkeit schnell und sehr verschnupft reagieren. Insofern offenbart »Tár« keinen Mehrwert zu aktuellen Debatten. Oder geht es darum, ob deutsche Orchester sich zwischen Demokratie und Autokratie entscheiden müssen? Eine Frage, die bereits schon entschieden ist. 

 

Schwierig auch die vielen Längen, z. B. die der Dialoge, gerade zu Beginn und die um Tars Intrigen. Teils am Rande des Klischees operierend, teils sogar mitten drin, wird den Zuschauern sehr viel Geduld abverlangt. Das ergibt gefühlte Langatmigkeit, und 159 Minuten Film erscheinen zu viel des Guten. Lediglich das Ende bietet Witz und Lebendigkeit. Das Schlussbild der ungewöhnlichen Aufführung auf den Philippinen und der Lacher mit dem Krokodil machen das schmerzhaft bewusst. Der Schlusssong von Besomorph & Jurgaz unterstreicht es auch musikalisch.

Das Fehlen echter Gefühle und natürlicher Reaktionen machen den Film zu einem glitzernden aber viel Licht schluckenden Rohdiamanten. Zu unentschieden windet sich das Drama irgendwo zwischen Satire, Thriller, Märchen und Musikfilm. Das Drama will seinen Platz nicht so recht finden.

Mersaw

 

http://www.upig.de/micro/tar