28. Juni 2022

Ein bildgewaltiger Moment der Kinogeschichte

»Everything Everywhere All at Once« – Ein Must-See für eigentlich jeden, der Filme mag, eine Filmkritik
Ein bildgewaltiger Moment der Kinogeschichte

Spätestens seit »Into the Spiderverse« ist das Konzept vom Multiversum im Mainstream angekommen. Marvel übernimmt das Konzept aus den Comics in das Cinematic Universe, tritt extrem viele Türen ein, um am Ende ein so extrem großes Multiversum zu haben und sich eben jede Tür und jede Möglichkeit offen zu lassen. »Loki« öffnete das Multiversum, »No Way Home« gab uns den besten Einblick, was das bedeuten könnte (und eine Menge Fanservice!) und »Multiverse of Madness«… war ein bisschen enttäuschend - wenn man Multiversum erwartete. 

Zum Glück ist das Multiversum nicht auf Marvel beschränkt. Neulich gab es den neuen Chip’n’Dale Film (Chip und Chap für uns Deutsche), der das Multiversum nicht als Thema hatte, aber mit so vielen Cameos und verschiedenen IP’s auftrumpfte, dass es schon nahe rankommt. Aber wie macht man einen Film übers Multiversum, ohne fünftausend Charaktere einzuführen oder auf unendlich viele Comicbücher zurückzugreifen?

Nun, die Daniels (Regie) und A24 geben uns mit »Everything Everywhere All at Once« nicht nur einen Film über das Multiversum, sondern ein einzigartiges Kinoerlebnis - ein einzigartiges Filmerlebnis - das so anders ist als alles, was wir bisher sahen. Es ist ein „cinematic miracle“ oder „cinematic masterpiece“.  Wer A24 Filme kennt, der weiß, dass sie vor nichts zurückschrecken. Konventionen brechen, out of the box-Denken, anders sein, schocken, gruseln, weird sein - all das bekommen wir auch in »Everything Everywhere All at Once«. 

Wenn wir Evelyn Wang dabei beobachten, wie sie in ihrem Leben kaum zurecht kommt, welche Probleme ihr in den Weg gelegt werden, dann fühlen wir mit, sind nah dran, teilen ihre Emotionen. Ihr Ehemann Waymond will sich scheiden lassen, ihr Vater hält sie für eine extreme Enttäuschung, ihre Tochter Joy entfernt sich immer mehr von ihr, weil Evelyn scheinbar nicht mit der Sexualität von Joy klar kommt. Zu allem Überfluss steht die jährliche Steuerprüfung an, denn Evelyn und Waymond haben einen Waschsalon. Die Steuerprüferin sagt, dass sie allein aus den Kassenzetteln eine ganze Geschichte erzählen kann. Ein ganzes Leben - ablesbar nur auf Kassenzetteln? Ist das wirklich alles, was das Leben sein soll?

Evelyn ist überfordert von der „too muchness“ des Lebens. Und ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich kann das extrem gut nachvollziehen. Wenn alles zu viel und jedes kleine Problem zu einem Riesending wird. Dann fragt man sich unwillkürlich: Wo bin ich falsch abgebogen? Was wäre nur aus mir geworden, wenn ich eine andere Entscheidung getroffen hätte?

Und das ist der Kern des Multiversums. Jede kleine Entscheidung führt dazu, dass neue Universen entstehen, in denen alles anders ist. Evelyn bekommt Einblick in ihre Leben in anderen Universen und ist erschüttert: Woanders ist es besser. Woanders ist sie glücklich. Woanders ist sie erfolgreich.

Der Film wird uns lehren, dass wir nicht einem Ideal nachrennen sollten, dass wir hier sind, weil unsere Entscheidungen, unsere Fehltritte, unsere Missgeschicke uns hier hingebracht haben. Dass wir aus jeder Misere auch etwas Gutes filtern können. Dass wir weiter machen. Dass wir das Gute in uns und in anderen sehen. Dass wir nett zueinander sind. 

Die Art, wie der Film uns dies lehrt, ist das Besondere. Wir gehen mit Evelyn auf die fantastische Reise durch das Multiversum, wir kämpfen, wir tanzen, wir singen, wir lachen und wir weinen. Und all das wird in grandiosen Bildern dargestellt. Die Cinematographie ist hier etwas ganz Besonderes, der Schnitt unglaublich gut. Die Verwendung von verschiedenen Aspect Ratios, je nach Universum, ist clever und so gut eingebaut, dass es nicht stört. Jedes Universum bekommt dadurch einen ganz speziellen, eigenen Look. Die Dialoge sind so gut, dass man fast vergisst, dass sie so im Script stehen müssten. Es wirkt alles sehr natürlich. Nichts ist out of place, alles ist da, wo es hingehört. Das ist Filme machen vom Feinsten. 

Die Emotionen und der Humor werden extrem stark von den Hauptdarstellern getragen. Michelle Yeoh, Ke Huy Quan (das ist Data von den Goonies!) und Stephanie Hsu sind unglaublich. Sie alle geben der Story einen besonderen Kick, sie alle sind nicht wegdenkbar, nicht austauschbar, sie alle geben die beste Performance überhaupt. Aber auch die grandiosen Nebenrollen (Jamie Lee Curtis zum Beispiel) oder kleinere Rollen haben alle etwas an sich, das mehr ist, als nur „Ich steh im Bild rum!“. 

Man kann diesen Film nicht erzählen. Man muss diesen Film erleben! Wenn ich euch sage, dass ich gelacht, geweint und mit offenem Mund dagesessen habe, reicht das gar nicht aus. Es ist ein wahres Kino-Erlebnis. Der Humor, die Skurrilität und der Einfallsreichtum werden euch umhauen. Meine Lieblingsszene ist eine, in der kein Wort gesprochen wird! Und trotzdem hat der Kinosaal gebrüllt vor Lachen. 

»Everything Everywhere All at Once« ist ein bildgewaltiger Moment der Kinogeschichte, der uns lehrt, im Moment zu leben und uns nicht ablenken zu lassen - von Smartphones, von der Grausamkeit der Welt, von Gedanken an „Was wäre wenn“.  Ein Must-See für eigentlich jeden, der Filme mag. 

 

Anne

http://www.leoninedistribution.com/filme/160284/everything-everywhere-all-at-once.html