Wahnsinnig unterhaltsames Roadmovie oder bunte Filterblase?

Hans Weingartner macht sich Sorgen um die Jugend und Europa. Dafür lässt er sie auch Eis essen in Verdun. Unsere Autoren sind begeistert, aber auch uneins, ob ihm das gelungen ist. Wahnsinnig unterhaltsames Roadmovie, oder wird hier in einer bunten Filterblase durch Europa geschwebt?
Pro
Jan und Jule schaukeln in Jules altem Wohnmobil durch Europa. In Deutschland sind sie an einer Tankstelle aufeinander getroffen, Jule hat den leicht verpeilten Typen mitfahren lassen, der per Anhalter unterwegs ist. Das ist nett von ihr, doch aus der Spontanität der Aktion ergeben sich Schwierigkeiten, unversehens steht Jan wieder an der Autobahn. Die beiden verabschieden sich, finden sich ein paar Szenen später aber rasch und zufällig wieder und dann ist schon klar, dass es besser sein könnte, gemeinsam weiter zu reisen.
Denn schon nach ein paar Minuten Alleinsein schüttet der Mensch Stresshormone aus, sagt Jule, die mehr so mittelerfolgreiche Studentin der Biologie. Bis zu diesem Punkt geht es Schlag auf Schlag in Regisseur Hans Weingartners Plot – danach lässt er sich zwei Stunden Zeit für die weitere Handlung. Was für ein verschwenderischer Luxus, was für ein Mut! Keine große Action nirgends, nie Angst vor Langeweile.
In mäandernden Gesprächen tasten Jan und Jule ihre Positionen ab, ihre Zweifel an sich und der Welt, ihre Prägungen und Verletzungen, ihre Wünsche und Hoffnungen. Nebenbei tanken sie, bauen Jules rostigen Grill auf und ab, essen meist sehr gut (Essen ist auch ein großes Thema!), waschen ihre T-Shirts und die Frontscheibe des ollen Mercedes 303. Vor allem sind sie unterwegs.
Die Fahrten auf europäischen Straßen wirken ebenso wie die zahllosen Stopps beinahe überbelichtet. Weingartners Kameramänner Sebastian Lempe und Mario Krause zeigen ein lichtdurchflutetes Europa, das auch in seinen hässlichsten industriellen Ballungen Raum für hintergründige romantische Momente bietet. Es scheint, als wollte Hans Weingartner, der realistischste Utopist unter den deutschsprachigen Filmemachern, der allgegenwärtigen Schwarzmalerei ästhetisch wie inhaltlich widersprechen. Deutschland, Belgien, Frankreich, Nordspanien, Portugal – »303« zeigt, dass Europa nicht nur alt, eng und mit schier endlosen Problemen belastet ist, sondern auch ein Kontinent, durch den man gern fahren mag, mit Landschaften, in denen man Raum für sich finden kann. Jan und Jule tun das im Bewusstsein der eigenen mitteleuropäischen Privilegien und des krisengeschüttelten Systems – stets mit ungeheurer Frische.
Es macht wahnsinnig Spaß, dabei zuzusehen, wie dieses äußerst wache Noch-Nicht-Pärchen über das Leben diskutiert, meistens zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommt und wie tolerant, zugewandt und empathisch die beiden miteinander umgehen. Die unglaubliche Spannung, die durch dieses intelligente, sich behutsam aufbauende Ineinanderverlieben entsteht, presst einen in den Kinosessel. Beide treffen schließlich eine Entscheidung - erst für sich selbst, dann füreinander.
Anton Spieker und Mala Emde lassen vergessen, dass sie Schauspieler sind, die ihre Arbeit tun – so überzeugend authentisch ist ihr Spiel. Sie sind ein phantastisches Paar. Hans Weingartner zitiert mit Genuss sein großes Vorbild Richard Linklater. Bei »Before Sunrise« war er Produktionsassistent in Wien, man sieht, dass er den großen Meister genau studiert hat. Mit seinem neuen Film ist er locker auf Augenhöhe.
»303« ist ein extrem intelligenter Entwicklungsroman und ein wahnsinnig unterhaltsames Roadmovie – eine Geschichte vom Hier und Jetzt, die ohne Zynismus auskommt und die gut ausgehen darf.
Grit Dora
Contra
„»303« ist sozusagen der 'Anti-Tinder' Film, die langsame Annäherung zweier Seelen.“ Klingt toll, so ein Statement, und macht neugierig auf den Film. Zu sehen bekommen die Zuschauer/-innen ein wunderbar leichtes und sehr lichtintensiv gefilmtes Road Movie mit zwei hervorragenden jungen Protagonisten – Mala Emde und Anton Spieker, die unterm Strich auch jede Menge Glückshormone versprühen.
Passend zur Landschaft gibt es einen atmosphärischen Indie-Soundtrack. Über die Handlung muss nichts weiter ausgeführt werden, viel gibt es ja dazu nicht zu sagen, abgesehen von den stetigen Ortsveränderungen irgendwo zwischen Berlin und Aljezur. Hervorzuheben wäre das in glänzendes Abendlicht getauchte Frankreich, die französische Tourismusbehörde könnte es nicht brillanter umsetzen.
Das alles kann sehr unterhaltsam und anregend sein, kann aber auch bei den geneigten Zuschauer/-innen eine gewisse Verunsicherung erzeugen. Könnte, insofern, dass Regisseur Hans Weingartner eben nicht nur eine einfache, leichte Liebesgeschichte erzählen wollte. Natürlich geht es ihm um mehr, Jules Theorie über die Vereinzelung macht sofort klar. Hier geht es um den Zustand der Welt, um unser gutes, altes Europa. Hier werden die großen Fragen gestellt. Wie müssen wir leben? Wie können wir die vielfachen Probleme der Welt lösen?
Und so werden von Jan und Jule im Verlauf der Reise viele Themen, teils unterhaltsam und auch mit großem Neuigkeitswert abgearbeitet. Zum Beginn gibt es ein wenig Kapitalismuskritik, danach erfahren wir vom guten Cro-Magnon-Mensch, der den Neandertaler, unseren starken aber egoistischen Vorläufer dank kollektiver Anstrengung ablöste. Merken, deswegen ist der kollektive Mensch auch der bessere! Ganz brav werden so auch die anderen wichtigen Kapitel abgearbeitet, Liebe, Sex, Treue, Beziehungsprobleme, natürlich immer säuberlich mit These und Antithese, dazu etwas kritische Distanz, vorwiegend von Jan vorgetragen (der dabei nicht nur optisch an Kurt Cobain erinnert).
Das kann Frau/Mann gut finden, das kann aber auch schnell didaktisch oder einfach nur nervend wirken. Zumal der Film mit der stolzen Länge von 145 Minuten Besitz von den Zuschauer/-innen ergreifen will. Neben Interessantem und Lustigem gibt es aber auch Sprüche wie aus dem Poesiealbum, werden falsche oder kaum belegbare Fakten unreflektiert vorgetragen.
So ist jener Cro-Magnon-Mensch keineswegs eine Art auf dem Weg der Menschwerdung, eher eine regionale und zeitliche Beschreibung des anatomisch modernen Menschen des westlichen Eurasiens, der während der letzten Kaltzeit lebte. Die Menschwerdung ist halt ein sehr komplexes und variantenreiches Thema, sie wird hier einfach passend gemacht. Denn Jules Theorie, dass der Mensch in der Gruppe besser jagt, klingt einfach gut, ist ein super einfaches Bild und bietet noch dazu ein wunderbares Reiseziel.
Weiteres unterhaltsames Beispiel, Jule zeigt ein Bild mit einer relativ kleinen Markierung in der Sahara und meint bedeutungsschwer, diese wenigen hundert Quadratkilometer reichen aus, die ganz Erde mit sauberem Sonnenstrom zu versorgen. Ja klar, theoretisch mag das auch so herleitbar sein, nur leider ist die Welt ein sehr chaotischer und seit Jahrtausenden existierender Ort. Der Mensch aber sucht und irrt oder besser fürs Album, nach Goethe: “Es irrt der Mensch solang er strebt.“
Manche Szenen wirken leider einfach aufgesetzt und etwas schlicht. Kurz vor dem wörtlich zu nehmenden Höhepunkt dürfen beide an der Wäsche des jeweils anderen schnuppern und lüstern mit den Augen rollen. Alles klar?
Ein weiterer Kritikpunkt: Die beiden besuchen in Saint Blaise eine Kirche und reden dabei über Beziehungsdilemmas und Dildos. Das hätte vielleicht provokant sein können. Aber apropos Auflehnung oder Radikalität. Solcher Art Elemente fehlen völlig im Film, weder provokante Ideen noch neben der Spur Liegendes. Angepasst rollen die beiden im Bus durchs schöne Europa, essen Käse, trinken Champagner und tanken fast täglich.
Das Eingangszitat von R. M. Rilke „Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe“ – wirkt im Nachhinein leider als böses Omen. Statt junge Menschen auf der Suche nach Wahrheit und Verantwortung erleben wir zwei etwas altklug daher redende Menschen. Dabei geht es sehr gepflegt und ruhig zu, einzig Jules Beziehungsproblem entfaltet sich wie in Zeitlupe. Schnell dürfte da aber auch jedem klar sein, dass dieser Alex ein ganz fieser ist.
Aus meiner Sicht wirkt der Film dadurch leider etwas naiv und am Lebensgefühl der Jugend vorbei erzählt. Von den aktuellen Schwierigkeiten Europas ganz zu schweigen. Die kommen im Film gar nicht vor. Jan und Jule bewegen sich wie in einer bunten Filterblase durch einen wunderschönen aber unreal wirkenden Kontinent. Ein paar kräftige realistische Striche hätten dem unbeschwerten Reisefilm gut getan. Auch dem Soundtrack!
Mersaw