4. Juli 2023

Von dorther kommt das Böse – »Das Lehrerzimmer«, Kritik, Pro & Contra

Junglehrerin Carla und ihre Schülerinnen bekommen, bildhaft gesprochen, einen Schneeball an den Kopf, aus dem sich binnen Minuten eine nicht mehr aufzuhaltende Lawine formt.
Von dorther kommt das Böse – »Das Lehrerzimmer«, Kritik, Pro & Contra

Pro 

Nähme ich allein die Emotionen, die echten und verbalen Umarmungen, die aus dem Team »Lehrerzimmer« heraus in die Gala des Deutschen Filmpreises 2023 flossen, okay, auch Leonie Beneschs Tränen, und nähme ich meine Bewunderung hinzu, wie İlker Çatak binnen zweier Filme erwachsen geworden, und doch ganz bei sich geblieben ist - ich wäre bereits vollauf zufrieden. Doch „Ahh, fuck*...“ , ich bekomme obendrein auch noch diesen Film. Und der ist leider geil.

Junglehrerin Carla (Leonie Benesch) und ihre Schülerinnen bekommen, bildhaft gesprochen, einen Schneeball an den Kopf, aus dem sich binnen Minuten eine nicht mehr aufzuhaltende Lawine formt. Die schöne Erinnerung an Jutta Hoffmanns »Karla« beiseite schiebend, höre ich, dass am Emmy Noether Gymnasium seit längerer Zeit geklaut wird. Wenn zu Beginn die Direktorin ihre Anstiftung zur Denunziation von Mitschülern mit der Null-Toleranz-Politik der Schule begründet, dann setzt der Film in diesem Moment seinen Kessel aufs Feuer. Fortan gilt; heizen, heizen, heizen und alle Schlupflöcher verstopfen. Aber genug der Bilder. Carlas bewundernswert feine Sensoren für all die alltäglichen Ungerechtigkeiten des Schüler- und des Lehrerkollektivs mit- und untereinander, erschweren jegliches Wachsen und Gedeihen ihrer noch wackeligen Reputation innerhalb des Lehrerzimmers. Frischer Wind wirkt hier für manche wie Zugluft.

Staunen über ihr unbestreitbares Talent Konflikte behutsam und eindringlich zugleich, weg von einer Konfrontation, hin zu einer allgemeingültigen, nachvollziehbaren Lösung zu führen, wird unvermittelt abgelöst vom Erstaunen über den innovativen, heutzutage jedoch unzumutbaren, Einfall mit dem Laptop. Die Idee wird zur Falle. Carla ist geblendet von ihrer vermeintlichen Entdeckung und für den Bruchteil einer Minute missachtet die kluge Frau all ihre eigenen, hohen Maßstäbe. Die mathematische Vereinbarung 0,999 ist gleich 1 lässt sich aber auf die Bluse der Schulsekretärin nicht anwenden. „Ahh, fuck*...“ hätte sie murmeln sollen, als Carla diese Verfehlung bewusst wird, und zurückrudern.

In der Schule fürs Leben gelernt, hätte sie so. Statt dessen sitzt ihr nun die Kamera (mit der routinierten Judith Kaufmann) im Nacken. Das Filmformat 1,37:1 engt ein und Marvin Millers hypnotischer Soundtrack bekundet mit seinem Cello auf Autopilot die Unabwendbarkeit der Ereignisse. Spätestens zwischen Leonie Beneschs Zusammenbruch vor der Elternschaft und ihrer Irrfahrt im Büro der Schülerzeitung kritzele ich in mein Hausaufgabenheft, dass Regisseur İlker Çatak hier nicht allein einen verminten Schulcampus ausleuchtet, er fragt vielmehr nach universellen Wahrheiten. Nach vermeidbaren Fehlern im gesamtgesellschaftlichen Diskurs. Und er sieht enorme Defizite in den Hauptfächern Respekt, Vertrauen, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit. Im Moment des fallenden Vorhangs denke ich noch „Ahh, fuck*...“ und stelle beunruhigt, aber auch befriedigt, fest, dass der MacGuffin seiner Aufgabe gerecht wurde; weil zum vollen Genuss des Filmes nicht wichtig ist, die Diebstähle am Ende aufzuklären.

* „Ahh, fuck...“ rief Leonie Benesch in den Saal, als sie den Deutschen Filmpreis 2023 für die Beste Hauptrolle in Händen hielt.

Rollo Tomasi

 

Semi-Pro

Qual der Wahl zwischen »Das Lehrerzimmer« und »Asteroid City«! Die Redaktion hat mir die Entscheidung anheimgestellt. Wes Anderson lockt, weil er zuverlässig das Erwartete, die Ästhetik, die Symmetrie, die Stardichte! liefert und man sich bei ihm so schön Zuhause fühlen kann. Bestätigungskino ist das aber nicht, das 14jährige Kind kommt nach Hause, eine Email der Klassenlehrerin ankündigend, die auf der töchterlichen Federmappe die Botschaft „Fuck Teachers“ entdeckt und vor der Klasse thematisiert hat. Blick auf die Mappe, da steht inzwischen „Funkelnde Teachers“. Schon trifft die Mail ein, die Lehrerin bittet, das intensive Gespräch mit dem Kind zu suchen.

Prima Anlass, die Tochter in das von ihr als Senioren-Kino abqualifizierte PK Ost zu schleppen, um einen Blick ins »Lehrerzimmer« zu werfen, Eindrücke von der anderen Seite und deren Herausforderungen zu sammeln. Zu Anfang flüstern wir noch mit vollen Mündern, die Chipstüte raschelt, nach spätestens zehn Minuten ist das vorbei. Regisseur Ilker Catak schneidet direkt rein in die Anfangssituation, Judith Kaufmanns Kamera geht ganz nah ran und Marvin Millers Sound ist superdicht. Keine Distanz möglich. Spannung pur. Carla Nowak (Leonie Benesch) unterrichtet Mathe und Sport, ihr Unterricht ist zugewandt und offen, individuell und wertschätzend. Sie ist jung und noch neu an diesem Gymnasium, in ihrer Klasse strahlt sie große Souveränität aus, im Lehrerzimmer ist sie auf der Suche nach ihrem Platz.

Von dorther kommt das Böse, die Verdächtigungen, die Unterstellungen. An der Schule wird geklaut, die Schüler werden verhört, die sogenannte Gemeinschaft ist bloße Behauptung, das Machtgefälle wird ausgenutzt. Carla Nowak versucht ihre Schüler zu schützen. Im Bemühen, die Wahrheit herauszufinden, greift sie selbst zu fragwürdigen Mitteln und gerät in der Folge zwischen alle Fronten, wird zwischen Lehrerkollegium, anmaßenden Eltern und ihren verunsicherten, zunehmend aggressiver reagierenden Schülern aufgerieben. Dabei bleibt sie immer auf der Seite der Kinder, während fast alle anderen Erwachsenen nur mit sich befasst sind, ihren Eitelkeiten, Machtkämpfen und oberflächlichen Befriedungsversuchen. Jeder von Carlas Versuchen die Situation zu entspannen, fügt der Gewaltspirale eine weitere Umdrehung zu. Am Ende ist auch sie kontaminiert vom moralischen Fehlverhalten der anderen Erwachsenen und kämpft dennoch weiter. Das ist der Stoff aus dem die Heldinnen sind. Ilker Çatak hat sich eines extrem unbequemen Themas angenommen und beschreibt die gesellschaftlichen Verwerfungen am Beispiel des Mikrokosmos Schule ohne einen Moment Entspannung zu zulassen.

Das offene Ende wirkt krass unbefriedigend, keine Aussicht auf Klärung, Lösung, Veränderung. Man könnte Catak vorwerfen, mit diesem Finale den einfachsten Ausgang gewählt zu haben. Uns schien es eher die bewusste Verweigerung einer wohlfeilen Katharsis zu sein. Das muss man sich auch erstmal zutrauen. Für den Mumm, diesen Film genau so zu machen, gab es denn auch gleich fünf Lolas. Und für uns reichlich Diskussionsstoff auf dem Heimweg.  

Grit Dora

https://www.alamodefilm.de/kino/detail/das-lehrerz...