Bis an die Tangente des Horizonts
Ein Mehrgenerationen-Ausflug ins PK Ost, als da sind: der Opa, der im Dezember 1989 mit seinen Arbeitskollegen vom Verkehrs- und Tiefbaukombinat den volkseigenen W50 mit Deutschland-Fahnen schmückte, um Helmut Kohl an der Frauenkirche willkommen zu heißen, die Mutter (Opas Tochter), die sich in den Wendewirren in die Kunst und an die Kunsthochschule gerettet und die Tochter (Opas Enkelin), die das ganze DDR-Diktatur-Gedöns soeben im Geschichtsunterricht gehabt und als Zusatzaufgabe einen Plakat-Slogan im Geiste des 1989er Herbstes erdichtet hat: Verpflichtender Ausreiseantrag für Honecker: Genehmigt! Opa weiß übrigens nicht, dass er einen Film über Frauen sehen wird. Als dieses etwas disparate Team sitzen wir im locker gefüllten Saal, die knapp zwei Stunden vergehen uns dreien auch ohne Snacks und Getränke wie im Flug.
Torsten Körner ist einfach ein brillanter Dokumentarfilmer, einer, der stets im Hintergrund bleibt, präzise recherchierend und ganz und gar seinen Themen verpflichtet. Wie in »Die Unbeugsamen« (dem Film über Politpionierinnen in der alten Bundesrepublik, der vor fünf Jahren in die Kinos kam) lässt er seinen Protagonistinnen in jeder Hinsicht Entfaltungsraum und schafft damit größtmögliche Konzentration. Die interviewten Frauen haben die Orte, an denen sie porträtiert werden, ersichtlich mit ausgewählt, wir sehen sie in privaten Räumen (Ateliers, Studios, Wohnungen) wie auch, entspannt platziert, in öffentlichen. Ihre Präsenz ist so faszinierend wie ihre Aussagen. Die Berichte von Arbeit, Familie, Gesellschaft, Knastaufenthalten, Kunstproduktion, die Verschränkung von Politik und Intimsphäre sind eingebettet in Aufnahmen sozialistischer Kunst am Bau, in die ehemals allgegenwärtigen Mosaiken der Arbeiter- und Bauernschaft, der Helden der Arbeit, die Frauen zumeist einen Schritt hinter den die Vordergründe gut füllenden Männern, aber gut sichtbar. Eingebettet auch in ikonische Fotografien bekannter DDR-Fotografinnen wie etwa Helga Paris und Sibylle Bergemann und prägende Spielfilmausschnitte (so aus »Paul und Paula«, »Solo Sunny«, »Bis dass der Tod euch scheidet« und „Spur der Steine“). In chronologisch aneinander gereihten Kapiteln verdichtet sich die Geschichte der DDR-Frauen zu einem eindringlichen Gesamtbild. Die in der DDR gelebte Gleichberechtigung der Frau war gelebte Dauerüberforderung in Doppelschichten: Erst die (Vollzeit-)Arbeit, dann die Familie, das Werktätigendasein der Frau war notwendig, weil jede Arbeitskraft dringend benötigt wurde. Die Hausfrau war, wie Katrin Sass es sagt, die „absolute Ausnahme“. Dieser vom Staat verordneten Doppelfunktion entsprang aber auch ein neues Selbstbewusstsein, eine gelebte Unabhängigkeit, von der Frauen in der Bundesrepublik nur träumen konnten. Und - so arbeitet es der Film heraus - damit ist dieses weibliche Selbstverständnis „das beste Erbe der DDR“.
Zumindest für die Tochter, der dieser Film im Nachhinein auch ihr diffuses Nachwende-Unwohlsein erklärt, die Unvertrautheit einer gerade volljährigen Ostfrau mit dem spezifisch bundesrepublikanischen male gaze der 1990er Jahre, der noch in den Untiefen der 1950er verankert war. Die Enkelin erklärt, dass dieser Film ihr DDR-Bild verändert. So steingrau und kalt sei das seltsame Land wohl doch nicht gewesen, dank der weiblichen Lebensfreude und Subversion. Und wer die tollen Frauen eigentlich alle seien, die Schlagzeugerin (Tina Powileit), die Malerinnen (Doris Ziegler, Annemirl Bauer) und die ganzen anderen (Metallurgin Karin Seyfarth, Zahnarzthelferin Kerstin Bienert, Comiczeichnerin Anke Feuchtenberger, die LPG-Vorsitzende, die Bürgermeisterin, die Punkerin und, und, und…)? Da ist noch Luft zum Recherchieren spannender Biografien. Und der Großvater? Schweigt nachdenklich.
Grit Dora
Anmerkung: Der Titel dieser Kolumne ist ein Zitat aus dem Song „Meine Nacht, mein Morgen“ der (im Film nicht interviewten) großen Liedermacherin Barbara Thalheim.