Das surreale Unterwassergefühl

Clemens Meyer tippt, Thomas Stuber filmt, Peter Kurth spielt: keine schlechte Kombination findet die Redaktion – und sie zeigen nebenbei die Sehnsüchte der Arbeiterklasse, die es ja angeblich nicht mehr gibt.
Ein junger Mann mit Knasterfahrung nimmt einen Job im Großmarkt an – Regale einräumen in der Getränkeabteilung. Ein älterer Kollege betreut den Frischling und wird zum Freund. Der Junge verliebt sich in eine verheiratete Kollegin. Am Ende stirbt einer.
Mehr passiert nicht in Clemens Meyers Erzählung „In den Gängen“ aus seinem Band „Die Nacht, die Lichter“, die Regisseur Thomas Stuber kongenial verfilmt hat.
Stuber, Jahrgang 1981, beginnt mit einem selbstbewussten Filmzitat. Wenn der Großmarkt zu den Klängen des Donauwalzers erwacht, erinnert das an einen der berühmtesten Filme der Kinogeschichte – Stanley Kubricks »2001: A Space Odyssey« von 1968 – ein Raumschiff dockt dort zum Strauß-Gassenhauer an eine im Orbit rotierende Raumstation an.
Das surreale Unterwassergefühl, das sich beim Lesen von Meyers Erzählung einstellt (Stille und Meeresrauschen am Kaffeeautomaten, in der Fischabteilung, am Gabelstapler), sollte schwer auf einen Film zu übertragen sein, könnte man meinen, aber Stuber schafft es über Kubrick. Er macht den Markt zur Raumstation, zu einem isolierten, im Nichts hängenden Mikrokosmos, belebt von einer verschworenen Gemeinschaft, die so nur innerhalb dieser Welt möglich ist.
In 120 Filmminuten wird geräumt, gestapelt, geraucht und Kaffee getrunken. Gesprochen wird kaum. Die Kamera verweilt auf den Regalen und den Gesichtern der Arbeitenden. Diese Welt ist nicht grau, sie ist farbgesättigt und sinnlich – der Flausch der Frauenpullover spricht mit dem groben Flanellkaro der Männerarbeitshemden, die vielen Tattoos des Großmarktneulings Christian mit den Sonnenuntergangs-Puzzleteilen seiner Liebsten Marion.
Meyer, der auch als Co-Drehbuchautor mitarbeitete und Stuber zeigen die Arbeiterklasse, die es ja angeblich nicht mehr gibt, weil sie entweder in der Angestelltenwelt auf- oder im sogenannten Prekariat untergegangen sein soll. Zeigen die Würde der Menschen, die Würde des Arbeitsplatzes, der mehr Heimat ist als alles andere, zeigen ihre Überlebensrituale. Die Suche nach winzigen Freiräumen, nach einem Quäntchen Unabhängigkeit. Nicht ohne Grund bleiben „die da oben“ gesichtslos. Wohltuend wirkt die Wortkargheit der Figuren, ihre Sprachlosigkeit, die hier, außergewöhnlich genug, einmal nicht für ostdeutsche Dumpfheit steht.
Das klingt alles nach anstrengendem, weil spaßfreien sozialkritischen Ansatz, ist es aber keineswegs, wer Meyers Texte kennt, weiß das sowieso.
»In den Gängen« ist ein kraftvoller, atmosphärisch dichter, bildersatter Film mit feinem Humor.
Und vielleicht der erste deutsche Film nach der Jahrtausendwende, dem es gelingt, an Rainer Werner Fassbinder anzuknüpfen (»8 Stunden sind kein Tag«) und an Frank Beyer (»Spur der Steine«). Franz Rogowski als Getränke-Christian, Sandra Hüller als Süßwaren-Marion und Peter Kurth als ehemaliger Fernfahrer Bruno spielen in einer Liga mit Gottfried John, Hanna Schygulla und Manfred Krug.
Grit Dora
Semi-Contra:
Es war ein Gag, den Regisseur Thomas Stuber einfach machen musste: Während einer Unterrichtsstunde für ‚kraftbetriebene Flurförderzeuge‘ wird den Schülern die Lehrfilmparodie »Staplerfahrer Klaus – Der erste Arbeitstag« vorgeführt. Der Kultkurzfilm aus dem Jahre 2000 wurde damals mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und lief sogar als Wettbewerbsbeitrag in Cannes. Eigentlich nur konsequent von Stuber, schließlich begleitet er »In den Gängen« auch einen jungen Mann beim Jobantritt in einem Großmarkt und bei ersten Versuchen hinter dem Steuer eines Gabelstaplers.
Zum Glück endet »In den Gängen« aber weniger blutig als der zitierte Klassiker und interessiert sich statt für abgetrennte Körperteile und Innereien vielmehr für das seelische Innenleben der in der fensterlosen Halle arbeitenden Menschen. Es ist ein fein abgestimmter Mikrokosmos, den Stuber und sein Co-Autor Clemens Meyer, der auch die literarische Vorlage lieferte, hier entfalten – bevölkert von Charakteren, die weder beruflich noch privat auf der Sonnenseite des Lebens stehen und in Tages- und Nachtschichten Waren in Regale räumen, von denen sie sich etliche wahrscheinlich selbst gar nicht leisten können.
In dieses von unausgesprochenen Regeln bestimmte Universum taucht nun Christian (Franz Rogowski) ein, der fortan von Bruno (Peter Kurth) aus der Getränkeabteilung durch die Probezeit und die Herausforderungen des Lastentransports geführt wird. Nicht minder herausfordernd: Christians Kollegin Marion (Sandra Hüller), die scheinbar ebenso Sympathie für den „Frischling“ hat.
In „Liebe und Tod im Großmarkt“ fasste Stuber die zugegebenermaßen dünne Handlung von »In den Gängen« bei der Dresdner Premiere im Rahmen von Körners Corner treffend zusammen. Denn das eigentlich Interessante findet sich nicht in den Gesprächen, sondern den stillen, dialoglosen Momenten. Darsteller Rogowski zeigte diese Art des leisen Schauspiels neulich schon einmal in Petzolds »Transit«, was beim Zuschauen dann aber doch viel Geduld erfordert. Oder eben die Frage aufwirft: Junge, wieso kriegste deine Gusche nicht auf und sagst, was du willst? Es sind starrende, schweigende und rätselhafte Figuren wie diese, dank derer es mir nie gelingen wird, einige meiner Freunde von der Qualität des deutschen Films zu überzeugen. Zu dröge, zu langsam, zu verkopft sind Gegenargumente, die dann meistens folgen – und sie vom Kinobesuch fern halten.
Lässt man sich jedoch darauf ein, ist zwischen den Zeilen viel zu entdecken: die große gefühlte Leere im Osten der Nachwendezeit (schön kontrastiert mit vollen Regalen), ein familiäres Zusammengehörigkeitsgefühl unter Kollegen, das gemeinsame Warten und Hoffen auf einen Neuanfang. Unterstrichen von einem interessant gewählten Soundtrack und getragen von Schauspielern, bei denen die Grenze zwischen Spiel und Realität scheinbar fließend ist, fühlt sich »In den Gängen« beinahe an wie ein Dresen-Film. Im Vergleich mit dessen Clemens-Meyer-Adaption »Als wir träumten« hat Thomas Stuber aber klar die Nase vorn.
Csaba Lázár