27. April 2017

Gegen gängige Erwartungen oder reaktionär?

Pro & Contra – »Moonlight«
Gegen gängige Erwartungen oder reaktionär?
Barry Jenkins’ »Moonlight« Erfolg erscheint märchenhaft, der kleine unabhängige Film wurde nach zahlreichen Preisen bei den Oscars als „Bester Film des Jahres“ ausgezeichnet. In der Redaktion ist man sich trotzdem nicht so sicher. Pro: Es soll ja Leute in Deutschland geben, die sich extra einen Urlaubstag gönnen, um Jahr für Jahr in der letzten Februarnacht die Oscar-Verleihung live anschauen zu können – der Autor dieser Zeilen beispielsweise. Keine leichte Aufgabe: Zunächst gilt es, die Peinlichkeiten diverser TV-Reporter am roten Teppich zu ertragen, anschließend müssen mehrere Stunden an Werbeblöcken überstanden werden, die die Gala ab und zu unterbricht. Erst ganz am Ende kommen die dicken Fische dran, die „wichtigsten“ Preise des Abends, u.a. für die Hauptdarsteller/innen, die Regie, den „Besten Film“. Nie zuvor wurde das stundenlange Wachbleiben bis kurz nach 6 in der Früh so unterhaltsam belohnt: ein falscher Umschlag, ein verwirrter Warren Beatty und ein falsch ausgerufener Gewinner. Was für ein schönes Chaos! Natürlich wäre es schön, wenn Barry Jenkins’ Drama nicht nur wegen dieser, in der Geschichte der Oscars (bisher) einmaligen Verwechslung in Erinnerung bleiben würde. Denn vieles ist an »Moonlight« tatsächlich außergewöhnlich: das niedrigste Produktionsbudget, das je ein Oscar-Gewinner-Film hatte ($1,5 Millionen); der erste Oscar-prämierte Film zum Thema Homosexualität, der eine rein schwarze Besetzung hat; der Schauspieler Mahershala Ali, der als erster Muslim überhaupt einen jener begehrten Goldjungen erhielt. Der Film erzählt vom Erwachsenwerden eines Jungen namens Chiron in einem Problembezirk in Miami. Während er zu Hause mit seiner drogensüchtigen Mutter (Naomie Harris) und in der Schule mit mobbenden Mitschülern zu kämpfen hat, wird er sich sukzessive seiner homosexuellen Identität bewusst, hält diese aber weitestgehend geheim. Zuflucht findet er bei einem Drogendealer (Ali), der für ihn zum Vaterersatz wird und in seinem Verhalten auch Jahre später noch prägt. Etliches in »Moonlight« entspricht nicht gängigen Erwartungen: Es gibt Drogenopfer, aber keine Schießereien, harte Jungs, aber „nette“ Kriminelle, und vor allem – trotz zeitlich passendem Rahmen – keine Schwulendisco-Szenen mit „I will survive“-Karaoke, stattdessen einen gefühlvollen musikalischen Mix aus Hip Hop, Soul und Motown-Klassikern. Und doch wirkt die Geschichte wie eine im Kino schon oftmals erzählte: das harte Umfeld in Kindertagen, geprägt von psychischer Gewalt und Einsamkeit, die Adoleszenz zwischen Unsicherheit und Wut, das Mann-Sein mit unterdrückter Homosexualität. Was bliebe an »Moonlight« erinnerungswürdig, wäre der Film zwar in einem ähnlichen sozialen Umfeld, aber nicht in einer schwarzen Community angesiedelt? Das Wort Klischee trifft es nicht ganz, doch bekannte Versatzstücke aus thematisch ähnlichen Werken sind hier in vielen Szenen zu entdecken. Aber vielleicht braucht jede Generation einfach ihren eigenen »Moonlight«, sind es doch immer wieder ähnliche Kämpfe, die Teenager während des Erwachsenwerdens austragen müssen. Zwar ist auch die von Regisseur Jenkins gewählte Form dieser „Manns-Werdung“ nicht neu – drei Schauspieler (Alex Hibbert, Ashton Sanders, Trevante Rhodes) porträtieren Chiron in unterschiedlichen Lebensphasen. Doch was die Darsteller hier zeigen, ist wahrlich phänomenal. Um so mehr, da sich die drei laut Jenkins während der Dreharbeiten nie begegneten. Wie sie ihre Figur über beinahe 30 Jahre trotzdem aus einem Guss erscheinen lassen, beeindruckt sehr. Wenn »Moonlight« statt des Oscar-Wirrwarrs also für deren Leistung im cineastischen Gedächtnis bleiben würde, wäre ich versöhnt.

Csaba Lázár


Contra

Der Oscargewinner 2017 - ein kleiner unabhängiger Film, der die großen Themen und die Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung auf die Leinwand bringt. Klang dramatisch und wirkte märchenhaft, was sich da in diesem Jahr abgespielt hat. Zwar hat Hollywood sich verändert, auch die Wahrnehmung der amerikanischen Öffentlichkeit und der Politzirkus um den neuen Präsidenten trugen ihren Teil dazu bei, aber Hollywood ist in erster Linie ein Geschäft. Doch der Reihe nach. Barry Jenkins realisiert seinen zweiten Langfilm als streng gebautes Drama über einen afroamerikanischen Jungen. In kurzen Episoden aus drei prägenden Lebensabschnitten - mit neun, mit 16 und mit 26 - wird seine an sich wenig spektakuläre Geschichte erzählt. Diese schlaglichtartige Form unterstützt die sehr poetische, emotionalisierte Erzählweise, die durch die unglaubliche Kameraarbeit von James Laxton, einem Studienfreund von Jenkins, mit großartigen Bildern in bisher kaum gesehener Form ergänzt wird. Entstanden ist ein wirklich einzigartig poetischer und auch authentischer Film, eingetaucht in ein zauberhaftes Licht. Laxton drehte mit einer ALEXA Plus von Arri, inspiriert von den drei klassischen Filmmaterialien. Er imitiert für jedes Kapitel ein anderes, im ersten Fujifilm-Filmmaterial, im zweiten das von Agfa-Film, was dem zweiten Kapitel den prägenden grün-bläulichen Look verpasst, und das Schlusskapitel ist inspiriert von einem modifizierten Kodak-Film. Jenkins vermeidet den Fehler, die Geschichte als klassisches, hyperrealistisches Sozialdrama zu erzählen. Das lässt dem Zuschauer Raum und der Film erhält eine metaphorische Überhöhung mit parabelhaften Zügen. Andererseits kann der wenig wohlmeinende Zuschauer schnell die Aufmerksamkeit verlieren und spürt auch bald Längen. Ein weiterer Kritikpunkt, den wohl nicht nur LGBT-Aktivisten anbringen werden, ist die Frage nach den Ursachen. Denn streng genommen werden alle sozialen oder gesellschaftlichen Implikationen ausgeblendet. Der Protagonist ist lediglich gezwungen, sich mit seinem zwar proklamierten aber nicht weiter ausgeführten Anderssein auseinanderzusetzen. Er wird im Verlauf des Films nie so recht den Kreis aus Demütigung und Drogen durchbrechen und z. B. seine Sexualität ausleben. Stattdessen wird aus dem kleinen linkischen Little genau der harte Kerl, der dem ethnischen Rollenmuster der US-Gesellschaft entspricht. Lediglich am Ende wird das Wiedertreffen mit seinem Jugendfreund so etwas wie Zweifel an seinem bisherigen Lebensweg in ihm wecken. Insofern könnte auch von einer reaktionären, die bisherigen Zustände in der schweren Community festigenden Sichtweise gesprochen werden. Trotz aller Poesie, entgegen aller Modernität der Bildgestaltung. Warum konsumieren so viele junge schwarze Mütter Crack? Warum leben so viele allein, ohne ihre Männer, müssen so viele Kinder ohne Vater aufwachsen? Fragen, deren Beantwortung auch in letzter Zeit ein schlechtes Licht auf die USA, nach immerhin zwei Amtsperioden Obamas werfen. Klar ist die einzige Lösung aus den alten Mustern nur durch Veränderungen im Kopf möglich, die Auseinandersetzung mit den tradierten Rollen und Opferhaltungen eine notwendige Voraussetzung. Interessanterweise kommt in diesem Monat das auch für den Oscar nominierte Porträt eines Aktivisten und großartigen Autors auf unsere Leinwände - »I Am Not Your Negro«. James Baldwins unvollendeter Text „Remember This House“ wird filmisch herausragend fortgeführt und hat nichts von seiner Aktualität verloren. Interessant ist, dass bei aller Diskussion um diesen Film kaum jemand auf die Tatsache verweist, dass der Stab die Plan B Entertainment als Koproduzenten ausweist. Plan B Entertainment ist eine Firma, die für Filme wie »Departed – Unter Feinden« und »World War Z« aber auch »12 Years a Slave« und »The Tree of Life« steht. Die Firma wurde 2001 von Brad Grey, Jennifer Aniston und Brad Pitt gegründet. Klar, dass Plan B immer auf der Suche nach neuen Talenten ist und bereits des Öfteren fündig geworden ist. Mit »Moonlight« hat sie aber ihr Meisterstück abgeliefert. Die Voraussetzungen für den Erfolg des Films waren optimal und der Film passte perfekt in die heutige Zeit. Entstanden ist jenes eingangs erwähnte Märchen zur diesjährigen Oscarverleihung, inclusive medienwirksamer und dabei hoch sympathischer Verwechslung.

Mersaw

http://moonlight.movie